Wie kommuniziert eine mehrsprachige Stadt?

Von Stefaniya Ptashnyk

Die gelben Plakate auf Wiener Straßen sind in diesem Frühjahr kaum zu übersehen: “Mythos Galizien” – damit wird eine große Ausstellung im Wien Museum angekündigt, die noch bis August 2015 zu sehen ist. Das Interesse an Galizien ist nach wie vor groß, obwohl es als Kronland vor über siebzig Jahren von der politischen Karte verschwunden war und sein Gesicht sich seither gewaltig verändert hat.

Porträtfoto der Sprachwissenschaftlerin Stefaniya Ptashnyk

Martin Gronau

Über die Autorin:

Stefaniya Ptashnyk ist Sprachwissenschaftlerin und arbeitet seit November 2009 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsstelle “Deutsches Rechtswörterbuch” an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Derzeit ist sie IFK_Research Fellow.
Publikationen (u. a.): Stadtsprachen historisch betrachtet: Zur Beschreibung der Mehrsprachigkeit in Lemberg 1848–1900, in: Christopher Kolbeck, Reinhard Krapp und Paul Rössler (Hg.), Stadtsprache(n) – Variation und Wandel, Heidelberg 2014, S. 95–110; Deutsch im alten Österreich: Zur Mehrsprachigkeit und Variation im habsburgischen Bildungswesen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Stadt Lemberg, in: Alexandra Lenz et al. (Hg.), Variation und Varietäten des Deutschen in Österreich. Theoretische und empirische Perspektiven, Frankfurt/Main 2014.

Veranstaltungshinweis:

Am 1. 6. hält Stefaniya Ptashnyk einen Vortrag mit dem Titel “Wie kommuniziert eine mehrsprachige Stadt? Zur Sprachensituation in Lemberg im späten 19. Jahrhundert “.

Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17,
1010 Wien; Zeit: 18 Uhr c.t.

Links:

Titelblatt der deutschsprachigen Zeitung „Galicia“ vom 1. Februar 1853, Erscheinungsort: Lemberg

Stefaniya Ptashnyk

Titelblatt der deutschsprachigen Zeitung „Galicia“ vom 1. Februar 1853, Erscheinungsort: Lemberg

In der heutigen Zeit, in der die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit wieder zu einem großen Thema wird, richten sich die Blicke erneut auf die einstigen Regionen und urbanen Zentren der Habsburger Monarchie, denn sie bieten uns ein reichhaltiges Material für die historische Betrachtung der multikonfessionellen und multilingualen Gesellschaften.

Wechselhafte Geschichte

Das heute weitgehend einsprachige ukrainische Lviv (früher: Leopolis (Latein), Lemberg (Deutsch), לעמבערג (Yiddish), Lwów (Polnisch) oder L’vov (Russisch) genannt) blickt auf eine wechselhafte Geschichte zurück. Nach der dritten Teilung Polens 1772 kam Lemberg zum Habsburgerreich und wurde zur Hauptstadt des Kronlandes Galizien und Lodomerien.

Mit Lemberg bekam die Donaumonarchie eine multilinguale und multinationale Stadt. Hier dominierten im 19. Jahrhundert Polnisch, Ukrainisch (im damaligen Sprachgebrauch als “Ruthenisch” bezeichnet) und Deutsch. Darüber hinaus wurden Jiddisch, Hebräisch, Armenisch oder Kirchenslawisch (im Schriftverkehr) verwendet.

Um 1850 gehörte Lemberg zu den größten Städten der Monarchie, zahlenmäßig hinter Pest, Prag, Venedig, Mailand und Wien. Der galizische Statthalter Agenor Graf Gołuchowski nennt 1851 in einem Bericht an die Lemberger Polizeibehörde folgende Bevölkerungszahlen: Einwohner insgesamt: 68.835, davon römisch-katholisch: 33.224, griechisch-uniert: 4.090, Juden: 21.357, Sonstige: 626, “Fremde”: 9.538.

Multilingual und -konfessionell

In den ab 1880 regelmäßig durchgeführten Volkszählungen wurde die Bevölkerung der Monarchie nach ihrer Konfession und nach der “Umgangssprache im Alltage” befragt. 1900 zählte Lemberg fast 160.000 Einwohner, die folgende Umgangssprachen angaben: Deutsch: 20.409; Polnisch: 120.634; Ruthenisch: 15.159; andere: 759.

Was die Konfession anbelangt, so waren um 1900 82.597 Einwohner Lembergs römisch-katholisch; griechisch-katholisch: 29.327; israelitisch: 44.258; “anderen Konfessionen” gehörten 3.695 Lemberger an. Polnisch war somit die überwiegende Sprache in Lemberg. Das Jiddische war zu diesem Zeitpunkt nicht als Sprache anerkannt; die Lemberger Juden gaben deshalb teils Polnisch teils Deutsch als ihre Umgangssprache an.

Sprachenpolitik der Habsburger

Die von Tendenzen zur Germanisierung und Zentralisierung geprägte Josephinische Politik bewirkte, dass sich in Lemberg bereits im 18. Jahrhundert deutschsprachige Institutionen, Bildungs- und Kultureinrichtungen etablierten. Die ersten deutschsprachigen Blätter entstanden in den 1780er Jahren (z.B. “Lemberger Wöchentliche Anzeigen”). Die Verwaltung wurde überwiegend von tschechischen und deutsch-österreichischen Beamten geleitet, die nach Galizien versetzt wurden.

Die politischen Entwicklungen nach der Märzrevolution von 1848 führten zur Steigerung des nationalen Selbstverständnisses unter den Völkern Österreichs. Die einzelnen Nationalsprachen gewannen als Ausdrucksmittel der Gruppenidentität zunehmend an Bedeutung, sodass die Regelung der Sprachenfrage zu einer zentralen Aufgabe der Regierung wurde. Das Prinzip der Gleichberechtigung von Nationalitäten und ihrer Sprachen ging in mehrere legislative Texte ein.

Im § 4 der Galizischen Landesverfassung vom 29. September 1850 wurde z.B. festgeschrieben: “Der polnische und ruthenische sowie die anderen im Lande wohnenden Volksstämme sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache”.

Postkarte von Lemberg um 1914

Dawid Grund, Lwow – Center for Urban History in Lviv

Gleichberechtigung der Sprachen angestrebt

Doch derartige gesetzlichen Regelungen führten nicht automatisch dazu, dass alle Sprachen Lembergs im gleichen Umfang Anwendung fanden. So haben z.B. um 1850 beide Lemberger Gymnasien zunächst das Deutsche als Unterrichtssprache (als eine Art “neutrale” Sprache) beibehalten. Das Polnische wurde von Ruthenen nicht als Unterrichtssprache akzeptiert, und für den ukrainischen Unterricht mangelte es an geeigneten Lehrmitteln.

Von entscheidender Bedeutung für die Sprachenpolitik war das Staatsgrundgesetz für Zisleithanien von 1867. Sein berühmter Artikel 19 proklamierte das Recht jedes Volksstamms auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und sollte die Gleichberechtigung der landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und im öffentlichen Leben und die Ausbildung in der Muttersprache garantieren.

Leider war seine Umsetzung nicht unproblematisch. In der Praxis löste man die Aufgaben auf die Art und Weise, dass offizielle Schreiben zwei- oder dreisprachig auf mehreren Spalten verfasst wurden; in gerichtlichen Fällen wurde durch Zusatzverordnungen festgelegt, welche sprachliche Ausfertigung als authentisch und welche als Übersetzung anzusehen ist.

Lemberg heute

Olena Anisimova

Polonisierung Lembergs nach 1867

Nach 1867 wurde Galizien zu einem Kronland mit autonomen Rechten, einem eigenen Landtag und Selbstverwaltung. 1869 wurde Polnisch im Zuge der galizischen “Sprachautonomie” zur Amtssprache Galiziens erklärt. Die Lemberger Sprachensituation war von nun an von einer zunehmenden Polonisierung geprägt, die in allen Bereichen spürbar war – in der Verwaltung, in der Presselandschaft, im Gerichtswesen usw.

Wenn man sich als Beispiel die Landschaft der mittleren Schulen in Lemberg um 1910/1911 anschaut, so überwogen hier eindeutig Schulen mit polnischer Unterrichtssprache (16 Einrichtungen). Zur gleichen Zeit wurden das Ruthenische und das Deutsche als Unterrichtssprache an jeweils zwei Mittelschulen verwendet.

Das Deutsche büßte nach 1867 seine dominante Stellung endgültig ein und damit war die Konfliktlinie zwischen Deutsch und Polnisch als Kontaktsprachen in Lemberg endgültig entschärft. Deutsch blieb jedoch bis zum Ende der Monarchie für den Verkehr mit den Zentralstellen obligatorisch und ferner als Bildungssprache wichtig. Es wurde an allen Lemberger Gymnasien, unabhängig von der Unterrichtssprache, angeboten; man las Werke von Lessing, Schiller, Goethe, Grillparzer und Lenau.

Die Stellung der anderen Landessprache, des Ukrainischen, wurde sprachenpolitisch nicht im vergleichbaren Ausmaß wie die des Polnischen gestärkt. Dies verursachte eine Reihe von Sprachkonflikten, von denen die Sprachwirklichkeit Lembergs auch nach dem Ende der Monarchie geprägt war.

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