Galizische Eigenheiten

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Professor Purchla erzählte unlängst in Wien, wenn er aus seinem Wohnort Krakau (polnisch Kraków) ostwärts reise – also etwa nach Lemberg (ukrainisch Lviv) -, dann verlasse er seine heimatliche Region nicht, obwohl er die EU-Außengrenze überquere. Fahre er hingegen nach Breslau (polnisch Wrocław), bleibe er zwar nach staatsrechtlichen Begriffen im eigenen Land, betrete aber kulturgeschichtlich gesehen eine andere Gegend.

Mit dieser kleinen privaten Anekdote wies der polnische Historiker Jacek Purchla darauf hin, dass es in Mitteleuropa einerseits kulturelle, andererseits politische Grenzziehungen gibt, und dass die politischen Grenzen häufiger geändert worden sind als die tiefer liegenden kulturellen.

Mythos und Gebiet
Jacek Purchla, Direktor des “International Cultural Center” (MCK) in Krakau, ist der Initiator der Ausstellung “Mythos Galizien”, die zurzeit im Wien Museum zu sehen ist. Vorher wurde sie mit großem Erfolg in Krakau gezeigt, wo man über die Geschichte und die Bedeutung des Landstrichs offenbar mehr weiß als in Wien.

Wolfgang Kos, der Direktor des Wien Museums, erklärte, in Krakau habe die Ausstellung bereits vorhandenes Wissen mobilisiert, während in Wien die Aufgabe darin bestehe, wieder ein Bewusstsein für das Thema Galizien zu schaffen. (Die Frage, welche Relevanz das Galizien-Thema in der krisengeschüttelten Ukraine hat oder haben könnte, wird in der Ausstellung, die schon 2010 konzipiert worden ist, nicht gestellt.)

In dieser historisch-kulturwissenschaftlichen Schau geht es darum, die Eigenheiten des Kultur- und Geschichtsraums “Galizien” darzustellen. Nicht ohne Grund geschieht dies unter dem Etikett “Mythos”. Wie die Ausstellung anschaulich darstellt, ist die Geschichte Galiziens nur zu verstehen, wenn die Zuschreibungen und Projektionen mitbedacht werden, die aus unterschiedlichen Richtungen die Region mit Bedeutungen und Emotionen aufgeladen haben.

Warum “Galizien”?
Mythisch in diesem Sinn ist schon der Name “Galizien”. Er entstand erst während jener drei “polnischen Teilungen” des späten 18. Jahrhunderts, in denen die damaligen Großmächte Russland, Preußen und Österreich das Land Polen untereinander aufteilten. Dabei fiel Schlesien an Preußen. Österreich, das ebenfalls gerne Schlesien annektiert hätte, bekam jene Region im Südosten, die sich heute von Polen bis tief in die Ukraine erstreckt, und die damals “Galizien und Lodomerien” genannt wurde.

Diese Begriffe wurden von kaiserlichen Diplomaten erfunden, um das neue Besitztum zu kennzeichnen. Dabei lehnte man sich an die Namen zweier versunkener slawischer Fürstentümer an: “Halytsch und Wolodymyr”, und da zumindest “Wolodymyr” einst auf ungarischem Gebiet gelegen war, ließen sich gewisse dynastische Erbansprüche auf das neue Land “Lodomerien” geltend machen. So wurde aus einer gewaltsamen Annektion eine gleichsam natürliche Übernahme.

Die größte Qualität der derzeitigen Ausstellung besteht darin, dass hier verschiedene Blickpunkte auf dieselben historischen Ereignisse rekonstruiert werden. So erfährt man, dass die Einverleibung Galiziens aus polnischer Sicht ein ebenso großes Unrecht gewesen ist wie die Annektionen Preußens und Russlands. Der polnische Mythos speist sich aus der Trauer über diese Teilung. Die Ausstellung zeigt mehrere Gemälde, auf denen das Leid des zersplitterten Volkes in höchstem Pathos dargestellt ist.

Die galizische Besonderheit besteht jedoch darin, dass die österreichische Regierung im 19. Jahrhundert eine größere Toleranz gegenüber nationalpolnischen Tendenzen zeigte als die preußische oder die russische. Krakau (auch “polnisches Athen” genannt) wurde zur heimlichen geistigen Hauptstadt des vernichteten Landes. Wie Jacek Purchla bei der Ausstellungseröffnung berichtete, erwachte auch deshalb nach dem Ende des Kommunismus eine gewisse Habsburg-Nostalgie im einstigen Galizien, während in anderen Teilen Polens nichts Vergleichbares in Bezug auf Deutschland oder Russland zu bemerken war.

Ein Vielvölkerstaat
Galizien wurde nicht nur von Polen und Österreichern bewohnt. Es war ein multiethnisches Gebiet, und es gehört bis zum heutigen Tage zum bekanntesten Galizien-Mythos, dass dort die verschiedenen Völkerschaften und Religionsgemeinschaften weitgehend friedlich nebeneinander existiert hätten. Die Ausstellung zeigt, dass dem nicht immer und überall so gewesen ist, dass es aber doch Zeiten gab, die dieser friedvollen Vision zumindest nahe gekommen sind.

Im derzeitigen europäischen Gedächtnis ist Galizien vor allem mit dem jüdischen Schicksal verknüpft. Kleinstädte wie Brody, der Geburtsort des Schriftstellers Joseph Roth, waren Zentren der orthodoxen jüdischen Religiosität. Ein jüdischer Galizien-Mythos besagt sogar, dass sich die Idee des jüdischen Staates Israel auf das galizische Vorbild berufen könne.

Darüber hinaus stammen die meisten Bilder, die wir uns vom einstigen Ostjudentum machen, aus Galizien. “Shtetl” heißt das jiddische Passwort, das diese Bilder aktiviert. Doch die Erinnerung an die verbrecherische Ermordung dieser jüdischen Welt ist ebenfalls mit dieser Region verbunden: Das Konzentrationslager Auschwitz, das zum Symbol für die Shoah geworden, liegt in Galizien.

Brody, die Kleinstadt an der russischen Grenze.© Bild: Brody Regionalmuseum
Brody, die Kleinstadt an der russischen Grenze.© Bild: Brody Regionalmuseum

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