Yoram Kaniuk, geb. 1930 in Tel Aviv, ist einer der bedeutendsten israelischen Schriftsteller. Sein Vater stammt aus Galizien und war Gründungsdirektor des Tel Aviv Museum of Modern Art. Seine Mutter stammt aus Russland und kam 1909 als Kind nach Palästina.

Am 17. Januar 2013 wird im Berliner Aufbau Verlag Kaniuks Roman „1948“ erscheinen, ein Schlüsselroman zur Geschichte Israels.

Ich bin vom sechsten Lebensjahr an im Krieg. Mein ganzes Leben, ausgenommen die Jahre in den Vereinigten Staaten, bin ich im Krieg. Als wir 1936 einmal nach Gedera fuhren, wurden wir bei Nes Ziona beschossen, und ein Mitfahrer im Überlandbus wurde verletzt. Ich sah sein Blut. Das Blut war traurig.

Seitdem befinde ich mich in diesem langen Krieg. Der hatte 1929, ein Jahr vor meiner Geburt, sogar noch zugelegt, und in den neunzig Jahren seither schießen Menschen und werden erschossen, wird getötet und gestorben, und immer zu Recht oder zu Unrecht, immer wegen eines kleinen Landstrichs, dessen Namen man auf Landkarten aufs Meer schreiben muss, weil er sonst nicht hinpasst. Es ist ein Krieg wie im Mittelalter.

Man ruht ein wenig aus und schießt dann wieder. Meine Mutter Sarah erinnerte sich sogar an 1921, als sie auf dem Schulhof des Herzlia-Gymnasiums Decken über die Ermordeten von Jaffa breitete, darunter den berühmten Schriftsteller Josef Chaim Brenner. Sie waren zerstückelt. Man konnte nicht mehr identifizieren,wer wer war. Man begrub sie zusammen, in einem Brudergrab.

Derselbe Krieg, Gefecht Nr. 100

Es ist ein auswegloser Krieg, ohne wirkliche Kampfpausen, blutig, unser Leben lang, und immer wieder gilt für uns der biblische Spruch: „Von deinem Schwert wirst du leben“ – von unseren Flugzeugen und unseren Panzern. Blut, Blut über Blut verrinnt. „In deinem Blute lebe“, sagte Hesekiel vor vielen Jahren. „In deinem Blute lebe. Ich sah dich zappelnd in deinem Blute, und ich sprach zu dir: In deinem Blute lebe.“

Jetzt ist wieder Krieg. Derselbe Krieg, Gefecht Nr. 10? Vielleicht Nr. 100? Es hat viele kleine gegeben. Auch große. Tausende sind auf beiden Seiten gestorben, und noch immer ist dieses Stück Erde keine sichere Heimstätte für irgendwen, ist nichts weiter als eine virtuelle Heimat für zwei Völker, die jahrhundertelang nicht in diesem Land gelebt haben. Das eine erinnert sich daran vor zweitausend Jahren in Gebetsversen. „Wir werden es nicht vergessen“, gelobten sie, vergaßen es aber doch. Große Geister, wie Rabbi Nachman von Bratzlaw und Maimonides, kamen und flüchteten wieder.

Und das andere Volk, der Feind des Feindes, der wir sind, kam vor tausend Jahren, vielleicht etwas früher oder später. Vielleicht sind wir überhaupt alle ein Volk, das sich in zwei geteilt hat, in drei, in Religionen, die sie erfunden haben, weil Gott nicht mit ihnen war, mit beiden nicht, und Gott auch nicht im Tod war, denn Gott ist Tod. Leben kommt aus der Gebärmutter einer Frau, und im Hebräischen entstammt das Wort für „Erbarmen“ demselben Wortstamm wie „Gebärmutter“ und „Bann“.

Das Land gehört beiden. Gehört Gott. Gehört Gott, den es nicht gibt. Erbarmungslos. Ohne böse Absicht. Immer schießen. Immer töten und getötet werden.

Ich sitze auf der Terrasse eines kleinen Cafés in der Bilu-Straße, „benannt nach einem berühmten Rabbiner“, wie ich mal jemandem aufband, der mich fragte, wer denn dieser Bilu gewesen sei. Die Frühgeschichte des Zionismus ist heute nicht mehr allen vertraut. Auf der Terrasse lesen die Leute Zeitungen. Zwei Gäste von gestern sind zum Reservedienst einberufen worden und trinken jetzt nicht gemütlich Kaffee. Ich bin alt. Kämpfen kann ich nicht mehr. Aber im Geist kämpfe ich. In mir steckt diese verzehrende Wut des Kriegers, der den Krieg hasst, aber erregt miterlebt. Ihn mitkämpft. Selbst im Traum. Ich liebe den heiligen Zorn, dieses elende und armselige, hehre und traurige Gefühl. Ich beweine die Toten, liebe aber die abscheuliche Erregung, die in mir erwacht.

Bombenangriffe und Gasmasken

1941 drohte der deutsche Feldmarschall Rommel von Süden her. In einer Höhle über dem Meer horteten wir Zwieback und Sardinen für ein neues Massada. Wir waren elf Jahre alt. Ein Jahr zuvor lauerte die Gefahr in Syrien. Soldaten des Vichy-Regimes. Die Bombenangriffe auf Tel Aviv und Haifa gingen los. Im Tel Aviver Busbahnhof wurden an die 130 Menschen getötet. Wir liefen mit Gasmasken herum wie fünfzig Jahre später im Golfkrieg, in dem ich zum ersten Mal wirklich Angst hatte, denn die Wörter „deutsches Gas“ hämmerten mir in den Ohren.

Nach dem Weltkrieg kam der Schmerz über die Überlebenden. Hätte sich nur ein Land der Welt der Juden erbarmt, wären Millionen gerettet worden. Amerika schloss seine Pforten. Hatte kein Erbarmen. Kein Land wollte helfen. Die Amerikaner hatten, wie es der damalige stellvertretende Finanzminister ausdrückte, „alles getan, um keine Juden zu retten“, und er war kein Jude, anders als sein Vorgesetzter. Aber an Bord der Van York, auf der ich neun Monate arbeitete, begegnete ich den Überlebenden und entwickelte eine Art Hass. Und wenn ich seither einen Krieg im Fernsehen sehe oder im Radio davon höre, habe ich eine Wut auf deutsches Gas. Oder auf den Mufti von Jerusalem, der uns auslöschen wollte, als ich sechs Jahre alt war.

Auf der anderen Seite gab und gibt es auch große Wut. Wut trifft auf Wut. Man kann nicht viel machen mit all unserem Unrecht und dem Unrecht der anderen Seite. Im belagerten Jerusalem, wo ich 1948 kämpfte, schossen die Jordanier Hunderte von Granaten. Menschen wurden beim Anstehen nach Wasser oder Petroleum getötet. Und wir zogen durch die Straßen und sangen, wie schön es wäre, am Bab el-Wad, an der Straße nach Jerusalem, zu sterben. Und nicht nur im Lied.

Ein teurer, ein grauenhafter Krieg

Man kann nichts machen. Also sitze ich auf der Caféterrasse, Alarm schrillt – „Farbe Rot“ heißt das im Radio –, Menschen rennen, um Deckung zu suchen, und ich fühle mich sechzig Jahre jünger. Es ist grauenhaft, im Krieg in Erregung zu geraten, wenn Menschen fallen und das Blut röter wird, und doch überkommt einen diese schreckliche und verfluchte Lust, dort zu sein, in der Gefahr, denn Gefahr ist der rote Faden, der die Tage meines Lebens miteinander verbindet.

Sicher wird sich eine Lösung für den heutigen Waffengang finden. Es ist ein teurer Krieg. Bedrohlich. Vielleicht wird das Geld ausgehen. Krieg macht die Wirtschaft kaputt. Junge Menschen ziehen ins Gefecht, weil sie, wie ich in dem Alter, nicht glauben, dass ihnen was passiert. Nur junge Menschen können kämpfen. Und dann sitzt du in einem Jagdbomber und triffst knapp daneben, und schon kommt ein neuer Goldstone an und das Recht verkehrt sich. Immer gibt es einen heldenhaften Kampf auf der einen Seite, wie der im Kibbuz Negba 1948 gegen die Ägypter, und ein ungerechtfertigtes Blutbad wie damals in Dir Jassin, auf der anderen Seite, die zur ersten wird, und in Gaza bist du plötzlich schlecht. Ein Kriegsverbrecher. Die Zieleinstellung war falsch, ein Mensch bekam Angst. Kinder wurden getötet. Der internationale moralische Gradmesser begleitet uns seit fast hundert Jahren, nur nicht Länder wie Syrien. Syrien nimmt kein Mensch auf der Welt unter die Lupe.

Hier kämpft Vergangenheit gegen Vergangenheit. Denn beide Seiten haben eigentlich keine Zukunft. Es gibt eine ewige Gegenwart voller Fehlgriffe und Schmerz – und Stolz und Beifall, wenn einer von der Gegenseite getroffen wird. Der Mensch als Mensch lebt erst seit zehntausend Jahren. Millionen Jahre waren wir Jäger. Das bleibt im Blut. Das bleibt im Gehirn. Die eine Seite kämpft gegen die andere, und jene kriegt immer Recht und bezichtigt uns des Mordes, ob nun an einem Kind oder an zweien.

Vor dem Fernseher

Die Ewigkeit ist Krieg. Der Mord ist die Historie, in der die Guten immer einen Weg finden, Moral zu verbreiten, sich in ihr zu aalen, denn nichts ist so wunderbar und schrecklich und traurig und schön und hässlich wie ein gerechter Krieg.
Der Tote der einen Seite zürnt dem Toten der anderen Seite. Tag für Tag im Luftschutzraum zu sitzen, ist keine leichte Angelegenheit. Aber es ist menschlich, denn sie und wir sind nichts anderes als Menschen, Menschenbrüder, die einander töten. Gefühllos. Mit der Mordlust, die der psychischen Erkrankung entspringt, die man „Geschichte des Menschen“ nennt. Adam – der Mensch, Bne Dam – Söhne des Blutes, heißt es auf Hebräisch. Sie leiden und fügen Leid zu und haben Recht.

Verdammt noch mal dieses Gefühl, das meine Kameraden und ich vor dem Fernseher verspüren, dass wir an diesem Tod teilnehmen wollen, denn den kennen wir von Geburt an. Das Sicherste auf der Welt ist der Tod. Wer zählt nach, warum und wieso, bis wann und ob es schön ist. Ist es nicht. Es ist nur richtig.

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama

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