Familie ist seit 250 Jahren unterwegs

Karl Pfeifer hat Flucht, Vertreibung und Umsiedlung erlebt.

„Meine Familie ist seit 250 Jahren unterwegs“, beginnt Karl Pfeifer das Gesprch. Seit 20 Jahren beschftigt sich der 79-Jhrige intensiv mit der Erforschung seiner Ahnen und der seiner Frau Ingrid. Die Einbettung dieser Familiengeschichte in die historischen Zeitlufte lie ihn 1999 eine Familienchronik mit dem Titel „Vor 200 Jahren aus der Pfalz nach Galizien“ erstellen und vor zwei Jahren kam anlsslich des 50. Geburtstages von Sohn Thomas eine Aufzeichnung der elterlichen Geschichte dazu. Karl Pfeifer wurde im Januar 1936 als ltester von sechs Shnen einer Bauernfamilie in Galizien geboren, wo die Vorfahren seit Ende des 18. Jahrhunderts gelebt hatten. Im Jahr 1939 wurde das Gebiet durch den Hitler-Stalin-Pakt sowjetisch, heute gehrt es zur Westukraine. 1940 erlebte Karl die erste Umsiedlung, als sich die Familie zum Umzug „Heim ins Reich“ in den reichsdeutschen Warthegau entschloss: „Den Deutschen in Galizien wurde ein Umsiedlungsvertrag mit einer „wert-gleichen Entschdigung“ fr die Gter in Galizien angeboten. Aufgrund der politisch unsicheren Situation entschlossen sich die meisten Galiziendeutschen fr die Umsiedlung.

Dort bewirtschaftete die Familie einen Bauernhof, dessen polnische Besitzer enteignet worden waren. „Daheim sprachen wir deutsch, auf der Strae polnisch.“ Ende 1944 zeichnete sich durch den Vormarsch der Roten Armee wieder eine Wende der Geschichte ab. Eine Familie aus dem Schwarzmeergebiet hatte auf dem Hof Zuflucht gefunden. „Die Vter und Grovter waren im Krieg, die Gromtter und Mtter standen mit insgesamt sieben Kindern im Alter zwischen eineinhalb und neun Jahren vor der Frage, wie kommt man schnell genug weg?“ Ein Planwagen wurde mit dem Ntigsten beladen und mit dem Pferdefuhrwerk machten sich die beiden Familien gemeinsam mit dem polnischen Knecht am 5. Januar 1945 bei klirrender Klte auf den Weg nach Westen. Das ganze Dorf befand sich in diesem Treck, der aber wegen einer fehlenden Genehmigung nach einem Tag und einer Nacht wieder umkehren musste. Auf dem Hof erwartete sie deutsches Militr, das sich dort einquartiert hatte und der Befehl, das Dorf sofort zu verlassen, weil „die Rote Armee vor der Stadt stand und Donner und Granaten deutlich zu hren waren“. Ein Sanittswagen brachte sie in Richtung der Kreisstadt Ostrowo (heute polnisch: Ostrw Wielkopolsk), wurde von der Militrpolizei gestoppt und die Flchtlinge mussten den Rest des Weges zum Bahnhof zu Fu zurcklegen. Sie erreichten den letzten offenen Gterwaggon. „Schnee lag darin, wir hatten einen Eimer Schmalz, einen Laib Brot und eine Steppdecke bei uns.“ Diese Steppdecke sollte den Kindern das Leben retten. In Cottbus wurden den beiden Familien Wohnungen zugewiesen.

Die NSV (Anm. d. Red: Nationale Volkswohlfahrt) organisierte die Versorgung der vielen Flchtlinge. Die Mutter informierte sich ber die Reiseroute nach Berlin, wo eine Grotante lebte, wegen der zwischenzeitlich erfolgten Bombardierung wurde ihr davon aber abgeraten. Stattdessen sollte es am 14. Februar weiter nach Bitterfeld gehen. „Whrend wir auf dem Bahnsteig auf den Zug warten und die beiden Mtter sich wegen der Weiterfahrt erkundigen, wird Cottbus zeitgleich mit Dresden durch englische Flieger bombardiert. Jeder versucht, sich irgendwie in Sicherheit zu bringen. Die Gromtter drngen mit uns Kindern in die Bahnsteig-Unterfhrung, wo wir den Angriff berleben. Die beiden Mtter werden jedoch auf dem Rckweg zum Bahnhof von dem Bombenangriff berrascht. Bei einem Granateinschlag wird unsere Mutter schwer verwundet und kommt in ein Lazarett. Die Mutter der anderen Familie wird dabei tdlich getroffen.“ Die Bilder erschttern Karl Pfeifer noch heute. Eher zufllig erfuhren sie, dass die eigene Mutter zwar verletzt wurde, aber berlebt hatte. Einige Tage spter wurden sie in ein groes Massen-Sammellager nach Bitterfeld gebracht, wo die beiden Familien getrennt wurden. Von dort ging es weiter nach Klleda. Die Schule diente als Flchtlingsunterkunft, dort lag aufgeschttetes Stroh, auf dem die Menschen schlafen konnten. „Dort wurden wir registriert und entlaust und dort habe ich zum ersten Mal in meinem Leben geduscht.“ Anschlieend kam die Familie nach Bachra zu einem Bauern. „Hier erlebten wir auch das Kriegsende im Mai 1945 und die amerikanische Besetzung.

“ Durch einen Zufall fand auch der Vater endlich zu seiner Familie. Der Vater erhielt bald Arbeit bei der Eisenbahn und die Familie zog im Mai 1946 nach Grokorbetha in Sachsen-Anhalt. Die Versorgung der vielkpfigen Familie mit Essen war sehr schwierig. „Die Einheimischen lieen uns anfangs spren, dass wir Flchtlinge waren. Wir waren eben Fremde, weil wir einen anderen Dialekt hatten und als Katholiken sonntags in die Kirche gingen. Aber mit der Zeit etablierten wir uns und das neue Zuhause wurde zu unserer neuen Heimat.“ In den 1950er Jahren wurde Karl Pfeifer klar, dass er nicht in der DDR bleiben wollte. 1957 begab er sich mit zwei gleichgesinnten Freunden auf eine Fahrradtour an den Bodensee. „Es sollte eine Radtour ohne Rckkehr sein, musste daher auch geheim gehalten werden.“
 


Ahmad Al Hamidi fhlt sich in Friedrichshafen wohl. Mit seiner Frau und den beiden Kindern hater zunchst im Asylbewerberheim gelebt.
Ahmad Al Hamidi fhlt sich in Friedrichshafen wohl. Mit seiner Frau und den beiden Kindern hat
er zunchst im Asylbewerberheim gelebt. |

Bild: Jenna Santini

27 Tage auf der Flucht: Die Geschichte von Ahmad Al Hamidi

Es war nicht mehr sicher. „Nicht mehr am Himmel und nicht mehr am Boden“, sagt Ahmad Al Hamidi. Mit seiner Frau und seinen beiden Kindern – inzwischen ist seine Tochter zwei Jahre und sein Sohn zehn Monate alt – ist er nach Deutschland geflohen. Der Familienvater beschreibt den Bombenhagel, der regelmig ber seiner Heimatstadt niedergeht und den Einmarsch des IS. Die Familie hat in einer Stadt nahe Aleppo gelebt – den Terror mitbekommen. „Keine Freiheit, keine Menschenrechte“, erklrt der 33-jhrige Jurist. Juristen sind beim IS unbeliebt.

Al Hamidi plant die Flucht. Die Reise wird lang: ber die Trkei, Griechenland, Makedonien, Serbien, Ungarn und sterreich weiter nach Deutschland. 27 Tage werden Al Hamidi und seine Frau mit den beiden Kleinkindern unterwegs sein. Der 33-Jhrige trgt die gemeinsame Tochter, seine Frau den Sohn. Auf ihre Rcken haben sie Wasser, Essen und Windeln fr die Kinder gepackt. Auch sie treffen – wie so viele Flchtlinge – in der Trkei auf einen Schleuser. Auf einem Boot sollen sie nach Griechenland gebracht werden. Der Schleuser verspricht, dass er nur 15 Personen mitnimmt. Am Ende sind es 47 und der Kahn ist nur acht Meter lang. Ob er daran gedacht hat, umzukehren? „Wir knnen kein Trkisch, wussten nicht, wo wir sind“, antwortet Al Hamidi.

Ein Zurck scheint unmglich. Was htte sie auch in Syrien erwartet? Sie treten die Reise an. Den Kindern haben sie Beruhigungstropfen gegeben. „Ich hatte Angst, dass sie sterben und es merken“, sagt der 33-Jhrige unter Trnen. Die ganze Fahrt ber betet er dafr, dass seinen Kindern geholfen wird. Zehn Minuten bevor sie in Griechenland ankommen, tritt Wasser in das Boot ein. Die Tochter wacht auf. Der Sohn braucht Essen und eine frische Windel. Al Hamidis schaffen die berfahrt. Doch die Reise ist noch nicht geschafft.

Sie landen in Athen, von wo sie einen Zwlf-Stunden-Marsch nach Makedonien zurcklegen. Wasser, Essen und Windeln sind wieder ihr Gepck. Sie haben blutige Blasen an den Fen, als sie ankommen. Von Makedonien bringt sie schlielich ein Bus an die serbische Grenze. „Die Soldaten haben uns zurckgeschickt“, erzhlt der 33-Jhrige. Sie wagen einen weiteren Fumarsch – mit einem Fhrer ber die Berge. 17 Personen brechen auf. Es ist kalt. Al Hamidi drckt seine Tochter unter seiner Jacke fest an sich. Seine Frau und seine Kinder weinen. „Was sollte ich tun?“, sagt der junge Mann. Sie laufen weiter und kommen am Ende ber Ungarn nach sterreich. Von dort fahren sie mit dem Zug nach Deutschland.

In Mannheim spricht Al Hamidi einen Polizisten an: „Ich habe ihm gesagt, dass wir aus Syrien kommen.“ Bei der Polizei wird er lange befragt. Doch Al Hamidi freut sich: Zuerst wurden die Kinder mit Getrnken versorgt. Die Polizei schickt ihn nach Karlsruhe. „Der Polizist hat uns zum Zug begleitet“, sagt Al Hamidi. Auf Karlsruhe folgt Mestetten. Einen Monat leben Al Hamidis in der Erstaufnahmestelle. Seine Frau ist Sprachlehrerin. Im Kindergarten der Einrichtung lernen und spielen sie mit Kindern aus Syrien, Afghanistan und vielen anderen Lndern. Die Arbeit macht ihnen Spa. Sie sind traurig, als sie gehen mssen. Um 7 Uhr morgens brechen sie in Richtung Friedrichshafen auf. Hier kommen sie ins Asylbewerberheim und anschlieend in eine Wohnung. Das ist zwei Monate her.

Al Hamidis erste Frage ist, wo er eine Arbeit bekommen kann. Ehrenamtlich hilft er jetzt in der St. Anna Hilfe aus. Am Morgen ist er mit seinen Kindern zusammen, am Nachmittag besucht er einen Deutschsprachkurs und danach die Senioren. Darauf widmet er sich seinem Studium, wie er sagt. Er beschftigt sich mit der deutschen Geschichte, liest im Grundgesetz und auch mal Goethe. Al Hamidi und seine Frau wollen in Deutschland studieren. Wirtschaftsrecht. Das kann sich Al Hamidi gut vorstellen. Doch der grte Wunsch dreht sich um seine Tochter und seinen Sohn: „Meine Kinder sollen in Sicherheit und glcklich leben.“

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