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Viele schwangere Frauen unter den Flüchtlingen
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Neue Freie Presse 11.10.1915
Belgrad ist nach schwerem Kampfe von den Truppen der verbündeten Kaiserreiche erobert worden. Im Nordteil der Stadt, wo die österreichisch-ungarische Armee eingedrungen war, wurde in den Straßen durch zwei Tage in einem leidenschaftlichen Nahkampfe gefochten, und der Sieg beim Übergang über den Strom und bei der Einnahme der serbischen Hauptstadt ist ein Ereignis, dessen politische Wirkungen auf dem Balkan und noch darüber hinaus fühlbar sein werden und das für den Verlauf des ganzen Krieges bedeutungsvoll sein muss. … In dem Augenblicke, in dem die Truppen der verbündeten Kaiserreiche ihre Fahnen auf dem Palaste des Königs Peter aufzogen, war dies ein Zeichen für den ganzen Balkan, dass die Politik der Herrscher und Staatsmänner, die sich nicht in russische Dienstbarkeit begeben wollten, gerechtfertigt sei. Deshalb ist der Sieg in Belgrad auch politisch so folgenschwer. Die Truppen der beiden Kaiserreiche sind am südlichen Ufer der Donau, und dort verkünden sie den Balkanvölkern, dass die Retter nahen, die in der Freiheit und in der Erstarkung, in der vollen Unabhängigkeit und in dem Aufblühen der von der Natur gesegneten Länder, auch ihr eigenes politisches Ziel erreichen. Denn unabänderlich bleibt die Politik Österreich-Ungarns: Wir wollen die Selbständigkeit der Balkanvölker und werden niemals dulden, dass sie unterdrückt oder verkürzt werde oder durch fremde Einflüsse zum bloßen Schein und Trug herabsinke.
(Anm: Ohne das Wort zu gebrauchen, geht der Leitartikel auf den gewünschten Dominoeffekt ein, der mit der Eroberung Belgrads eintreten sollte. War Serbien einmal erobert, dann sollten auch Rumänien und Bulgarien, die zu diesem Zeitpunkt noch mehr (Rumänien) oder minder (Bulgarien)neutral waren, ihre Haltung ändern, man konnte die Türkei wirkungsvoller unterstützen: der gesamte Balkanraum, Österreich-Ungarns „Hinterhof“, würde eine andere Gestalt annehmen und die Situation sich verbessern. Was der Artikel nicht thematisiert, ist der überwiegende Anteil, den die deutsche Armeeführung an dem militärischen Erfolg trug. Eine Woche zuvor, am 4. Oktober, hatte Conrad von Hötzendorf, Österreichs Generalstabschef, geschrieben: „Noch viel mehr aber drückt mich, dass unseren Krieg gegen Serbien, wohin alle unsere Traditionen weisen und den ich im Jahr 1909 erträumte, nunmehr die Deutschen führen. Aber dieses Jahr hat mich gelehrt, Bitterkeit zu ertragen.“ Manfried Rauchensteiner kommentiert diese Zeilen so: „Nichts konnte die Stellung der Habsburgermonarchie, ihrer Armeen und ihrer militärischen Führer deutlicher hervorheben als diese von Enttäuschung und Bitterkeit diktierten Worte.“ „Unser“ Krieg auf dem Balkan wurde von den Deutschen geführt, nur weil der deutsche General Falkenhayn nicht locker ließ und den Feldzug gegen den zögerlichen Willen Conrads durchsetzte, gelang das Unternehmen. Die österreichische Armeeleitung wollte sich mehr auf Italien konzentrieren und sich mit Serbien arrangieren, doch nunmehr war auch auf dem Balkan, im österreichischen „Hinterhof“, die Initiative an Deutschland übergegangen. Ein verbitterter Conrad: „Mit dieser Operation dankt Österreich-Ungarn als Großmacht ab; die Führung geht in die Hände Deutschlands über.“)
Viele schwangere Frauen unter den Flüchtlingen
Neue Freie Presse 10.10.1915
Das Leiden der Frauen, die die zerstörte Heimat verlassen mussten.
Wir erfahren täglich von Siegen in Galizien, aber trotzdem wird es noch lange dauern, ehe die Mehrzahl der Flüchtlinge dorthin zurückkehren kann. Ein verwüstetes Land, das noch keinen Lebensunterhalt bieten kann, zerstörte Wohnstätten erwarten sie dort. Alle, die aus geordneten Verhältnissen herausgerissen wurden, hat Not und Entbehrung bitter getroffen, am meisten jedoch mussten die armen Frauen leiden, die im Flüchtlingselend Mutter wurden. Die Wöchnerinnenfürsorge in Wien hat es sich zur Aufgabe gemacht, Schwangeren durch Beratung und Unterstützung ihr Los nach Möglichkeit zu erleichtern. 1200 Frauen haben die Hilfe dieser Fürsorgestelle bereits in Anspruch genommen, täglich finden sechs bis acht Neuaufnahmen statt. Die Fürsorgestelle veranlasst, dass die Frauen zur Zeit ihrer Entbindung unentgeltlich in eine Gebäranstalt aufgenommen werden. Jede Frau erhält eine Geldunterstützung, eine komplette Wäscheausstattung für sich und für das Kind, Naturalien, Milchanweisungen, Badekarten usw. In einem eigenen Mütterheim werden sie nach der Entlassung aus dem Spital noch für ein bis zwei Wochen aufgenommen, damit sie nicht, ehe sie vollständig hergestellt sind, in ihre Wohnungen zurück müssen, die oft nur luft- und lichtlose Massenquartiere sind. Von den Müttern, welche durch die Fürsorgestelle versorgt wurden, sind von 1200 bloß drei im Wochenbett gestorben.
Herr Griensteidl, sein Kaffeehaus und der Konkurs
Ein Kaffeehausbesitzer mit Hang zum Leichtsinn.
Neue Freie Presse 9.10.1865
Aus dem Gerichtssaale. Heinrich Griensteidl, 48 Jahre alt, Vater von 8 Kindern, seines Zeichens Apotheker-Gehilfe, etablierte im Jahr 1844 auf einem der besten Posten, Ecke der Herren- und Schauflergasse, ein Kaffeehaus. Obwohl das Geschäft allenthalben als im besten Betriebe angesehen werden musste und nächst dem Daum’schen als das rentabelste in Wien galt, so war doch Heinrich Griensteidl gezwungen, im Jahre 1862 Concurs anzumelden. Die diesfalls durchgeführte Schlussverhandlung endete mit der Verurteilung des Heinrich Griensteidl wegen schuldbarer Crida zu dreiwöchentlichem Arrest. Das Urteil basierte auf Griensteidl’s leichtsinnigem Lebenswandel und seinem übermäßigen Aufwand. Am 31. Dezember 1864 meldete Griensteidl neuerdings Concurs an. Nicht nur dass er die Forderungen der alten Gläubiger nicht zahlte, so machte er noch an 10.000 Gulden neuer Schulden. Einen Monat vor der Concurseröffnung verkaufte Griensteidl sein Geschäft an seinen Bruder Felix. …. Griensteidl gibt auf die Fragen des Vorsitzenden teils gar keine, teils ausweichend kurze Antworten. Die Gläubiger legen dem Angeklagten alle einen leichtsinnigen Lebenswandel, den Umgang mit Frauenzimmern, großen Luxus usw. zur Last. Heinrich Griensteidl wurde zu 4 Monaten mit Fasten verschärften strengen Arrestes verurteilt.
Anm: Eine weitgehend unbekannte Episode aus dem turbulenten Leben des berühmten „Griensteidl“ wird hier berichtet. Die Vorgeschichte: Der Apotheker Heinrich Griensteidl, der auch über eine Kaffeesiederkonzession verfügte, begründete 1844 eine kleine Kaffeeschenke im ersten Stock eines Hauses in der Bibergasse. Eine eigene Apotheke besaß Griensteidl in Wien niemals. Im September 1847 verlegte Griensteidl das Kaffeehaus in die Parterrelokalitäten des Herbersteinpalais an der beschriebenen Stelle und verwendete seine Ersparnisse für eine luxuriöse Ausgestaltung des Lokals. Es wurde während und nach der Revolution von 1848 Treffpunkt von Revolutionären und Arbeiterführern, bald auch ein Sammelpunkt für junge Literaten. Das Lokal wurde nicht nur eines der bekanntesten, sondern auch eines der meistbesuchten und elegantesten seiner Art in Wien. 1856 lag hier bereits eine Unzahl von in- und ausländischen Zeitungen der verschiedensten Sprachen zur freien Benützung auf. Trotz aller geschäftlichen Turbulenzen hielt sich das Kaffeehaus bis um Jänner 1897, in diesem Monat wurde das Palais Herberstein abgerissen. Die Schließung inspirierte Karl Kraus zu seiner Satire „Die demolirte Litteratur“, Kraus war mit Peter Altenberg, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten und Arthur Schnitzler hier Stammgast gewesen. Im Februar 1990 wurde an derselben Stelle (heute Herrengasse 1-3, ein neues „Café Griensteidl“, eröffnet, es liegt an einem Hotspot der Wiener Touristenströme.
In Krisenzeiten ist das Auto überflüssig
Die Gummivorräte drohen zu Ende zu gehen.
Neue Freie Presse am 8.10.1915
Das Automobil ist anfangs lediglich ein Luxusfahrzeug gewesen, dann aber hat es sich zu einem wichtigen Verkehrsmittel herausgebildet und seine Bedeutung für den Verkehr brauchte heute nicht erst hervorgehoben zu werden. Jetzt steht die Sache aber so, dass die Frage zu entscheiden war, ob der allgemeine Gebrauch des Kraftfahrzeuges aufrechterhalten werden soll. Zur Ausrüstung gehören nämlich unbedingt Gummireifen. Der Gummi wird nicht bei uns gewonnen; er kommt aus den tropischen Ländern. Wir haben derzeit keine Möglichkeit, mit diesen Ländern in Verbindung zu treten und unseren Bedarf durch den Import zu decken. Für die zu Heeres- und öffentlichen Zwecken benötigten Automobile wird aber in absehbarer Zeit ein Mangel an Gummi eintreten, wenn die Vorräte nicht gestreckt werden. Dies ist nur dann möglich, wenn der Verbrauch an Gummi für überflüssige Zwecke soweit als möglich eingeschränkt wird. In diesem Sinn muss eben die Automobilfahrt unterlassen werden, die nur zu Vergnügungs- oder Privatzwecken unternommen wird. Da man aber schwer feststellen kann, ob die ein Automobil besitzenden Personen, wenn sie ihr Vehikel benützen, eine wichtige Fahrt oder eine Vergnügungsfahrt unternehmen, so bleibt eben nichts anderes übrig als eine generelle Maßnahme, durch welche der Automobilverkehr auf das Mindestmaß eingeschränkt wird.
Warum sind die Wienerinnen um die Hüften so breit geworden?
Das neue Idealbild der mondänen Schönheit: Eher Makart als Klimt.
Neue Freie Presse am 7.10.1915
Wenn einer jetzt nach monatelanger Abwesenheit „von draußen“ heimkehrt in die alte liebe Wienerstadt, dann pflegt er bei seinem Bummel über Ring und Kärntnerstraße am meisten über eines zu staunen: wie merkwürdig gut nämlich die harte Zeit der Brotkarten und der hohen Fleischpreise den schönen Wienerinnen anzuschlagen scheint. Im Gesicht merkt man ja nichts. Aber so um die Hüften herum sind sie alle miteinander mindestens um die Hälfte stärker geworden, so dass sich das Idealbild der mondänen Schönheit entschieden eher wieder an Makart als an Klimt anlehnt. Während der erstaunte Jüngling aus der Fremde noch über die Ursache dieser Wandlung nachdenkt und geneigt ist, der ausgiebigen Fütterung mit Kukurzmehl jene segensreichen Wirkungen zuzuschreiben, kommt ihm plötzlich die Erleuchtung: die Damen haben sich gar nicht verändert, sondern nur die Kleider. Fast alles, was er da sieht, ist nur eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Man hat in diesem Herbst plötzlich das Bedürfnis, mächtig gebauschte, gefältelte Röcke und weit ausladende Glockenjacken zu tragen. Ein sonderbarer Gegensatz: durch die Straßen fährt der hochbeladene Wagen, der während der „Wollwoche“ jedes überflüssige Fleckchen Stoff sammelt, um es einer nützlichen Verwendung zuzuführen, und daneben gehen die Wienerinnen spazieren, stolz darauf, dass jede von ihnen mindestens zwei Meter Stoff mehr am Leibe trägt, als notwendig wäre. Die Damen werden sich in Gottes Namen auch noch bis zum Ende des Krieges ohne Falten- und Glockenröcke „durchfretten“ können. Man muss ihnen nur helfen, denn die Tyrannin Mode ist stärker als all ihr guter Wille.
Die Züchtigung der wilden Sioux-Indianer
Bericht einer amerikanischen Zeitung über die Zivilisierung des wilden Westens.
Neue Freie Presse am 6.10.1865
In dem Augenblick, in welchem durch den Aufstand des Südens das Dasein der Union in Frage gestellt wurde, erhoben sich, durch die Feinde der Union bearbeitet und aufgereizt, die Indianer des fernen Nordwestens zu verheerenden Einfällen in die ihren Jagdgründen benachbarten Niederlassungen. Die Regierung von Washington sah sich in die Notwendigkeit versetzt, eine verhältnismäßig starke Truppenmacht auszusenden, um den Verheerungen ein Ende zu machen, den Grenzgegenden die Sicherheit des Lebens zurückzugeben und die Wilden für ihre Untaten zu züchtigen. General Alfred Sully, welcher sich bereits auf den Schlachtfeldern Virginiens ausgezeichnet hatte, erhielt das Commando der Expeditionen, welche in den drei letzten Jahren gegen die Sioux und andere Stämme ausgesendet wurden. Die Gefahren, Beschwerden und Entbehrungen solcher Feldzüge sind eigentümlicher Art. Ihre Märsche führten durch weite Wildnisse und baumlose, bald ebene, bald wellige Prärien. In diesen fernen Gegenden, durch tausende von Meilen von den Sitzen des civilisierten Lebens entfernt, liegen in verschiedenen Grenzforts verteilt kleinere Truppen-Abteilungen. Was tun diese Menschen, wenn sie nicht fechten? Verwildern sie nicht im Kampfe mit den Barbaren, die den halbtoten Feind skalpieren und den Gefangenen bei langsamem Feuer verbrennen? …. Der schwarze Mann muss civilisiert werden ebenso wie der rote. Einige sagen: Beide werden eher aussterben. Das ist Gottes Sache, nicht unsere. Leben und Tod sind in seiner Hand. Man gebe den Unwissenden die Declarazion der Unabhängigkeit in die Hand, dazu Webster’s Buchstabierbuch, und stelle einen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett vor die Schultür, bis sie lesen und verstehen lernen.
Angeheiterte Honoratioren bei der Straßenbahn-Eröffnung
Das Ereignis wurde mit viel Champagner begossen.
Neue Freie Presse am 5.10.1865
Eröffnung der Pferde-Eisenbahn. Wieder hat die Stadt Wien einen Schritt weiter zu ihrer Entwicklung als Großstadt getan. Natürlich konnte ein solches Ereignis nicht unbesungen und unbetoastet vorübergehen. Es musste, sollte es eine richtige Feier, die Champagnertaufe erhalten. So wurde also unter dem anspruchslosen Titel eines Dejeuners ein sehr reichliches Mahl von etwa einem Dutzend Gängen serviert. Mit dem Entkorken der Champagner-Flaschen begannen die Toaste. Statthalter Graf Chorinsky knüpfte an die Bemerkung, dass die Erste Wiener Pferdebahn nach Dornbach führe, den Wunsch, dass dieser Weg für die Unternehmung keine Dornenbahn sein möge, und brachte ein Hoch aus auf die Unternehmer. Der Unternehmer, Herr Schank, trank auf das Wohl des kaiserlichen Statthalters wegen der warmen Unterstützung, welche die kaiserlichen Behörden dem Unternehmen gewidmet hatten. Gemeinderat Pollak verglich es mit einem Kinde, das der väterlichen Unterstützung der Journalistik nicht entbehren werde. Darum trinke er auf das Wohl der Journalistik. Im Namen dieser letzteren erwiderte der Redakteur des „Hans Jörgel“ mit dem Gegentoast auf die Wiener Gemeinde. Ein Hoch auf den Kaiser wurde ebenfalls ausgebracht, und dasselbe wurde mit Jubel aufgenommen. Nach 5 Uhr wurde die Rückfahrt angetreten. Es herrschte auf den Imperialsitzen streckenweise große Heiterkeit, und die noch immer harrende Menschenmenge dürfte vielleicht erraten haben, dass die Herren Eröffner in Hernals „da draußen“ gut gefrühstückt hatten. Um halb 6 Uhr langten die Gäste auf dem von heute an nicht mehr ungewöhnlichen Wege der Pferdebahn am Schottenring an.
Erzherzogin-Zita-Spitalszug geht in Betrieb
Auch Operationen sind auf dem k.u.k. Krankenzug möglich.
Neue Freie Presse am 4.10.1915
Der neue Spitalszug wird am 5. dieses Monats auf dem Westbahnhof im Beisein der Erzherzogin Zita eingeweiht und der Kriegsverwaltung übergeben. Der k.u.k. permanente Krankenzug Nr. 46 („Zita-Spitalszug“), dessen Zusammenstellung und Ausrüstung ausschließlich der patriotischen Opferwilligkeit der Spender zu danken ist, sichert den Verwundeten und Kranken das beste Unterkommen und die beste Pflege während der Fahrt. Von den 24 Wagen mit 49 Achsen sind sieben Wagen für die Schwerverwundeten, acht für die Leichtverwundeten und neun für die Zugsbegleitung, für Küchen- und Vorrats, Magazins- und Desinfektionszwecke bestimmt.
Die Schwerverwundetenwagen enthalten je zehn Krankenbetten, die auf Eisengestellen übereinander auf jeder Wagenseite untergebracht sind. Der Transport der Patienten kann in der besten Ruhelage erfolgen, die auf Gurten gelagerten abhebbaren Betten lassen die Bewegung des Zuges kaum verspüren. Jeder Wagen ist mit allen für ein Krankenzimmer in Betracht kommenden Gegenständen versehen. In der Mitte zwischen den Wagen für die Schwer- und Leichtverwundeten ist der Operationswagen eingeschoben, die Ausrüstung ist so reichlich, dass jederzeit auch auf dem rollenden Zuge dringende, lebensrettende Operationen vorgenommen werden können. Der Zug hat einen Gesamtbelegraum für 250 Verwundete. Man kann den ganzen Zug vom einen zum anderen Ende durchschreiten. Alle Unterkunftsräume haben Öfen und Beleuchtung durch Spiritusglühlicht. Der Zug führt ein Telephon mit vier Sprechstellen.
Wien hat eine neue Pferdestraßenbahn
Kühne Freiwillige nahmen an der Probefahrt teil.
Neue Freie Presse am 3.10.1865
Die nach der Torsperre in Wien überall herrschende Nachtstille ward gestern in besonderer Weise unterbrochen. Das bewegte Leben, welches sich zur mitternächtigen Stunde entwickelte, galt dem neuesten Sensations-Object, der Pferde-Eisenbahn. Eine Probefahrt sollte stattfinden, und hiezu hatten sich zahlreiche Reporter und sonstige kühne Freiwillige eingefunden. Um 11 Uhr schnaubten zwei Züge heran. Jeder bestand aus einem von vier starken Pferden gezogenen Wagen. Schellengeklingel und der von hellen Laternen verbreitete Lichtschimmer verkündeten ihr Erscheinen. Beide Wagen füllten sich sehr rasch und fort ging’s im raschen Trab nach Hernals. Die Hernalser Linie wurde in 7 Minuten, die Remisen beim roten Kreuz, vorläufig der Endpunkt der Bahn, in 25 Minuten erreicht. Auf der ganzen Strecke hatte sich trotz der Nachtstunde ein zahlreiches Publicum eingefunden, welches die rasch dahinrollenden Wagen mit lauten Beifalls- und anderen Rufen begleitete. Nach kurzem Aufenthalt wurde in derselben Weise die Rückfahrt angetreten. Dieselbe währte 27 Minuten. Noch kommen hievon 8 Minuten auf Rechnung eines durch eine Entgleisung hervorgerufenen Aufenthalts. Derartige Störungen sind selbstverständlich bei einer Pferde-Eisenbahn durchaus nicht gefährlich und können sehr schnell behoben werden. Das Schütteln während der Fahrt war, wie zu erwarten stand, minder stark als bei gewöhnlichen Omnibussen. Die Wagen enthalten 36 Sitzplätze (18 Innen- und ebensoviele Außenplätze). Sowohl Damen- als auch Herrencoupés sind mit einer hier noch nicht gesehenen Eleganz ausgestattet und die Sitze sehr bequem. Nur die Aufgänge zu der Imperiale (die obere Plattform) finden wir etwas gefährlich. Dennoch glauben wir, dass die Imperiale Sitze sehr großen Anklang finden werden.
Militärgericht in Wien verurteilt britische Gouvernante
Unvorsichtige Äußerungen führen zu harter Kerkerstrafe.
Neue Freie Presse am 2.10.1915
Eine Engländerin vor dem Militärgerichte. Vor dem Landwehrdivisionsgericht wurde heute gegen eine Engländerin ein Strafprozess durchgeführt. Gegenstand der Verhandlung bildete eine Anklage gegen die englische Staatsangehörige Ida Blackmore wegen Verbrechens der Störung der öffentlichen Ordnung und Ruhe nach § 65 des Strafgesetzes. Die Angeklagte stand seit mehreren Jahren bei österreichischen Familien im Dienst als Sprachlehrerin und Gouvernante. Wiewohl sie überall die beste Aufnahme fand und auch nach Kriegsausbruch, insbesondere im Haus des Dr. Fritz Erben, woselbst sie zuletzt als Gouvernante tätig war, geradezu als Familienmitglied behandelt wurde und, obwohl sie ferner auch sonst keinen Grund hatte, sich über die Behandlung seitens unserer Behörden zu beklagen, unterließ sie es nicht, ihre wahre Gesinnung zu dokumentieren und dem Gefühl der Feindschaft gegenüber unseren deutschen Verbündeten auch gegenüber Österreich selbst Ausdruck zu verleihen. Kurz nach dem Untergang der „Lusitania“ soll sie in der Wohnung ihrer Dienstgeberin zweimal gegen Deutschland gerichtete Äußerungen gemacht haben, in denen sie dem Wunsch Ausdruck gab, dass Deutschland besiegt werden solle. In der Voruntersuchung hat die Angeklagte entschieden in Abrede gestellt, deutschfeindliche Äußerungen gemacht zu haben und betont, dass sie stets gut österreichisch und deutschfreundlich gesinnt war. …. Nach längeren Beratungen verkündete der Verhandlungsleiter das Urteil des Militärgerichtes, womit die Angeklagte nach § 65 schuldig erkannt und zu acht Monaten schweren, durch zwei Fasttage in jedem Monat verschärften Kerker verurteilt wurde. In der Urteilsbegründung steht: „Es ist kein Geheimnis, dass die ganze anglikanische Welt, in erster Linie England, über die Torpedierung der Lusitania wütend war und es ist wohl selbstverständlich, dass die Angeklagte, die ihre Nationalität zwar vergessen haben will, aber nicht vergessen hat, ihrer Wut in den von einwandfreien Belastungszeugen bestätigten Äußerungen Ausdruck verliehen hat. Die Angeklagte, als intelligente Person, musste sich dessen bewusst sein, dass diese Äußerungen gegen den Bestand Deutschlands und damit auch gegen den Bestand Österreichs gerichtet sind.“
Keine Aufstachelung böser Instinkte im Wahlkampf!
Verhetzung der Bevölkerung vor den Wahlen in Wien und Niederösterreich.
Neue Freie Presse am 1.10.1890
In allen Städtebezirken Niederösterreichs, vor allem aber in allen Bezirken Wiens und der Vororte sind die Vorbereitungen für die übermorgen stattfindenden Landtagswahlen zur vollen Höhe gediehen. Man ist sich des Ernstes des Wahltages allerorten bewusst worden, und derselbe spiegelt sich auch in den Wahlaufrufen wider, welche in den einzelnen Bezirken erlassen werden. Die Wahlaufrufe der liberalen Partei treten mit mannhafter Entschiedenheit der antisemitischen Brutalität entgegen, sie weisen auf die kostbaren, in schweren und langen Kämpfen erstrittenen Volksgüter hin, welche durch das Bündnis des Klerikalismus mit dem christlich-sozialen und dem hochverräterischen Sozialismus bedroht sind, sie geißeln mit rücksichtsloser Schärfe die schamlose Verlogenheit, mit welcher der Antisemitismus seinen Kampf führt, sie heben die traurigen Folgen hervor, welche die Verhetzung der Bevölkerung, die Aufstachelung aller bösen Instinkte bereits nach sich gezogen hat und noch nach sich ziehen wird.
(Anm: Die „Neue Freie Presse“ vertrat 1890 wie in den Jahrzehnten zuvor die Ideale der liberalen Partei, doch zu diesem Zeitpunkt war trotz dieses flammenden Aufrufs nichts mehr zu retten. Seit den 1880er Jahren war die bürgerlich-liberale politische Richtung, die auf der institutionellen Dominanz einer gesellschaftlichen Elite und dem Ausschluss politisch „unreifer“ Wählermassen beruhte, nicht mehr zu retten. In Gestalt politischer Massenbewegungen wie den Christlich-Sozialen, Sozialdemokraten und Deutschnationalen drang das Soziale machtvoll in die bürgerlich-liberale Welt und führte spätestens 1890 zum Implodieren der liberalen Partei. Gegenkonzepte auf liberaler Seite zu Populismus und Antisemitismus fehlten, eine Anpassung an die neuen sozioökonomischen Verhältnisse wurde verpasst. Nur wenige weinten den verkrusteten Liberalen eine Träne nach, doch zurück blieben die Juden, die nach dem Scheitern des parteipolitischen Liberalismus in die politische Heimatlosigkeit gedrängt wurden. Manche wechselten zum Sozialismus, andere wandten sich der Wissenschaft und Kunst zu: Die kulturelle Hochblüte des Wiener Fin de siècle konnte beginnen.)
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