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Lembergs Glanz zwischen den Fronten – FAZ
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Von Prof. Dr. Matthias Friedwagner (Frankfurt.)
Seit Przemysl und sein Hinterland wieder in unseren Händen ist, richten sich aller Augen auf die Hauptstadt Galiziens, Lemberg, die nach einem heldenmütigen Widerstande in zwei langen Schlachten zu Anfang September dem dreifach überlegenen Feinde geräumt worden war, um nicht der Zerstörung preisgegeben zu sein. Als offener Ort ist sie – glücklicher als andere – diesem Schicksal bisher entgangen. Wie so manche ansehnliche Stadt des Ostens, rückte auch diese erst durch die Ereignisse des Krieges in den Gesichtskreis Mitteleuropas, das hinter Krakau endet. Wohl nur selten überschreitet ein Vergnügungsreisender, selbst ein solcher mit ernsteren Interessen, diese von Natur und Gewohnheit gezogene Grenze, obgleich darüber hinaus eine eigenartige Welt liegt. Die Entfernung Lembergs von der Reichshauptstadt an der Donau ist freilich nicht geringer als die von Wien nach Frankfurt, sieben und ein halbes Hundert Kilometer.
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Ist es auch keine historische Stadt in dem Sinne wie Krakau, die einstige Residenz- Krönungs- und Begräbnisstadt der polnischen Könige, mit ihren Kunstdenkmälern aus der Blütezeit des Reiches; fehlt ihm auch der landschaftliche Reiz des Karpatenvorlandes und die geschlossene Einheit und Schönheit einer bestimmten Bauperiode, da es erst spät zu größerer Bedeutung gelangte, so vereinigte es doch als Mittelpunkt des großen, fast acht Millionen Menschen verschiedenen Stammes an Bevölkerung zählenden Landes soviel Sehenswertes, daß Lemberg wohl einen Besuch verdient. Wer dann die Reise bis in die Bukowina ausdehnt und dort ein Stück lebendiger deutscher Kulturarbeit kennen lernt, sodann über Siebenbürgen (wo seit Mitte des 12. Jahrhunderts die „Sachsen“ deutsche Städte begründet und zur Blüte gebracht haben) und Ungarn heimkehrt, am besten der Donau entlang, der wird ganz neue Erfahrungen sammeln und sich vieler Naturschönheit erfreuen können. Dies wäre endlich auch ein „neues Reiseziel“ – aber freilich nicht für Weltbummler mit ihren Ansprüchen an die Bequemlichkeit und ihrer Unempfindlichkeit gegenüber der ursprünglichen Natur.
Der Name Galizien stammt von dem alten Fürstentum und seiner jetzt öfters genannten Hauptstadt Halicz (ruthenisch und russisch Galicz) am Dniester und wurde dann auf das ganze weite Land übertragen. Lemberg (ältere Form Lemberg, d. i. Löwenberg, polnisch Lwów) liegt 120 Meter hoch, am Rande der podolischen Hochebene, aber umgeben von Hügeln, die noch im Weichbilde der Stadt mit dem Franz Josefberge bis zu 400 Meter ansteigen. So wird Lemberg dem Reisenden erst bei der Ankunft sichtbar und entbehrt daher des eindrucksvollen Bildes, das z. B. Krakau und andere Städte des Ostens mit ihren vielen Kirchen und Türmen schon aus der Ferne gewähren, von Czernowitz ganz zu schweigen, das bei Sadagora an der von Rußland kommenden Bahn schon durch seine hohe Lage einen überraschend malerischen Anblick darbietet, wie ihn nur Kiew vom Dnepr aus in gleichem Maße zu geben vermag. Auf dem Wege vom großen neuen Hauptbahnhof in das Innere von Lemberg gewinnt man erst langsam die richtige Vorstellung von der Größe und Bedeutung der Landeshauptstadt, die mit mehr als 200 000 Einwohnern (Polen, Ruthenen, verhältnismäßig weniger Juden als sonst in galizischen Städten und einigen Tausend Deutschen) im vollen Aufblühen begriffen war, als der Russenkrieg ausbrach und eine Massenflucht veranlaßte.
Im Innern macht Lemberg einen freundlichen Eindruck. An Stelle der alten Wälle sind Anlagen getreten und der parkähnliche Platz (Waly Hetmanskie) vor dem neuen Theater ist eine Zierde der an schönen Plätzen nicht eben reichen Stadt, die auch in neueren Teilen ziemlich unregelmäßig geraten ist, was mit dem ungleichen Boden zusammenhängen mag. In der Mitte der Altstadt, auf dem Rynek (d. i. „Ring“, wie nach dem Deutschen die Marktplätze in Galizien allgemein heißen) erhebt sich das 1827-34 neu gebaute gewaltige Rathaus („Ratusz“) mit einem die Häusermasse weit überragenden 65 Meter hohen Turm, der in gebührend verkleinertem Maßstabe für die Gemeindehäuser Galiziens und auch der Bukowina ein Vorbild geworden sein könnte.
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