Öltürme, noch aus Holz, dicht an dicht bis zum Horizont. Man wähnt sich in Texas zur Zeit des Wilden Westens bei Betrachtung eines Gemäldes von Reinhold Völkel. Doch die Szene zeigt eine Landschaft in Ostgalizien um 1910. In der Region um Boryslaw und Drohobycz, die heute zur Ukraine gehört, wurden seit dem frühen 19. Jahrhundert die Rohstoffe Öl und Erdwachs gesammelt. Mitte des Jahrhunderts, mit neuen Methoden der Raffinierung und dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, begann die rückständige Region an der Peripherie des Habsburgerreiches zu boomen. Durch sie wurde Österreich-Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg 1914 zum drittgrößten Erdölproduzenten der Welt, nach den USA und Russland. Ein Dallas im Osten: Einige Unternehmer waren durch das Öl schwerreich geworden, die Tagelöhner erlebten die „galizische Hölle“.

Viele solcher weniger bekannten Details, illustre Bilder, berühmte Literatur und große Geschichte fügen sich in der Ausstellung „Mythos Galizien“ im Wien-Museum Karlsplatz zu einem abwechslungsreichen Gesamtbild der Welt von gestern. Diese Kooperation mit dem International Cultural Centre in Krakau ist klug inszeniert, auch multimedial, mit Filmen, Tonbeispielen. Die Begleittexte sind präzis. Gleich beim Eingang wird originell erzählt. Dort steht eine Telefonzelle. Nimmt man den Hörer ab, hört man Geschichten aus alter Zeit. Im ersten Raum läuft eine Diashow kolorierter Fotografien, hauptsächlich mit Straßenszenen aus Städten wie Krakau, Przemyśl und Lemberg. Wer weiß denn noch, dass Letztere, heute Lwiw im Westen der Ukraine, einst die viertgrößte Stadt der Habsburgermonarchie war?

Galizien: Das österreichische Texas


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„Halb-Asien“ nannte Karl Emil Franzos dieses multikulturelle, 1772 künstlich geschaffene Land, in dem neben Polen, Ukrainern, Österreichern, Juden, Armeniern auch kleinere Völker mit exotischen Namen lebten – Bojken, Lemken, Huzulen und Podhale-Goralen. Ihre Welt ist noch in Werken erstklassiger Schriftsteller wie Bruno Schulz, Joseph Roth oder Józef Wittlin lebendig. Auch der zeitgenössische Autor Martin Pollack (der einen Beitrag für den Katalog verfasste) hat ein exzellentes Buch über diese verschwundene Welt geschrieben: „Nach Galizien“.

Nach der ersten Teilung Polens durch die Großmächte Russland, Preußen und Österreich-Ungarn fiel Galizien 1772 der Habsburgermonarchie zu und blieb dort bis zu deren Untergang 1918 am Ende des großen Krieges. Erst aber erfährt man von diversen Gründungsmythen, die sich vor allem in Gemälden manifestierten – komplex und komplexhaft, je nachdem, ob man Galizien als einen Gebietsverlust, als Rand des Reiches, als neues Israel oder als Kerngebiet eines künftigen Staates betrachtet. Im hohen Mittelalter war die Stadt Halytsch am Dnjestr bereits Sitz der Fürsten der Kiewer Rus, 1215 soll dort auf der Burg ein König residiert haben: Koloman, Sohn des Ungarn Andreas II.

 

Der Mythos vom „guten Kaiser“

Auf dieses Land gab es von jeher verschiedenste Ansprüche. Man sieht die unterschiedlichen Stadien der Teilung und auch die Ratifikationsurkunde des Vertrages zwischen Maria Theresia und Friedrich II. Dann wird man im nächsten Raum von Joseph Hickels Porträt von Kaiser Joseph II. (1771) begrüßt. Auf dem Fußboden davor ist eine riesige Landkarte abgedruckt. Galizien war das größte Land der österreichischen Reichshälfte, von dort kamen ein Fünftel der Einnahmen und auch der Rekruten. In der Hauptstadt des Reichs bauten die Kolonisatoren vor allem nach dem Ausgleich von 1867 und Gewährung der Teilautonomie am Mythos vom „guten Kaiser“. Viele Dokumente widersprechen dieser Sicht. Es gab Unruhen, wie ein großes Gemälde von der Galizischen Bauernrevolte 1846 zeigt, die sich gegen die polnische Oberschicht richtete. Man mühte sich um Industrialisierung, doch noch um 1900 lebten 80 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Damals wanderten in nur zehn Jahren 500.000 Menschen aus.

Galizien kam auch nach Wien. Ein letzter, abgetrennter Abschnitt zeigt diesen Aspekt. 1910 lebten hier mehr als 40.000 Galizier. Den polnischen Adel zog es in die Metropole, einige bekleideten höchste Regierungsämter, wie die Grafen Badeni und Gołuchowski sowie Ritter von Dunajewski. Die meisten Zuwanderer waren Juden. Ihnen wird in dieser Ausstellung einiger Raum gegeben. Auch die aktuelle Situation des ehemaligen Galizien in Polen und der Ukraine findet am Ende noch Platz. Bis zuletzt wird hier sensibel die Übersicht bewahrt.

Bis 30. August 2015 ist die Ausstellung im Wien-Museum Karlsplatz zu sehen: Dienstag bis Sonntag und Feiertag, 10 bis 18 Uhr. Kuratiert wurde die Schau von Werner Michael Schwarz, Monika Rydiger, Zanna Komar, Wolfgang Kos und Jacek Purchla. Der Katalog „Mythos Galizien“ ist im Metroverlag erschienen, 384 Seiten, 34 €.

(“Die Presse”, Print-Ausgabe, 26.03.2015)

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