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Nach einer wahren Geschichte
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Streitfall
Eine Kanadierin schreibt einen Schoa-Roman. Der sei bei ihr abgekupfert, sagt eine israelische Journalistin und klagt auf Millionen. Ein Lehrstück über Copyright, Historie und Moral
10.07.2014 – von Oliver Noffke
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Der Zweite Weltkrieg in Galizien. Ein Landstrich wird zum Spielball der Nationen. Warschau, Berlin, Moskau, Kiew – weit entfernte Metropolen verschieben immer wieder die Grenze. Die ungewisse Zugehörigkeit zerrt an den Nerven der Bevölkerung. Die Lügen der Propaganda wiegeln sie auf. Als Hitlers Truppen einfallen, werden die Juden endgültig zu Freiwild. Nach und nach verlieren sie alles. Ihr Ansehen, die Besitztümer, schließlich das Recht zu leben. Nur die wenigsten überstehen die Aktionen in den Ghettos, Hunger und Krankheiten, die enorme Kälte während der Winter oder die Transporte in Todeslager wie Belzec.
Ein 2013 erschienenes Buch erzählt eine schier unglaubliche Überlebensgeschichte aus dem Galizien dieser Zeit. Es heißt My Mother’s Secret und berichtetvon der polnischen Bäuerin Franciszka Halamajowa aus dem Städtchen Sokal am Fluss Bug. Sie bewahrt Juden vor dem sicheren Tod, indem sie diese über Monate auf dem Heuboden über ihrem Schweinestall versteckt. Später gewährt sie auch einem jungen deutschen Deserteur Unterschlupf. Aus der Sicht von Halamajowas Tochter Helena erzählt das Buch vom Terror, dem Juden ausgesetzt sind, den Monaten des Stillsein-Müssens und dem drohenden Tod für alle, falls Wehrmacht oder Nachbarn etwas entdecken sollten.
werbung Geschrieben wurde My Mother’s Secret, das auf Deutsch vor wenigen Wochen unter dem Titel Das Geheimnis meiner Mutter erschienen ist, von der taiwanesischstämmigen Kanadierin J.L. Witterick. Im vergangenen Jahr wurde das Buch unter kanadischen Kulturkritikern zu einer kleinen Sensation. Zum einen, weil es sich um den Debütroman einer Frau Anfang 50 handelt, die vom Einwandererkind zur überaus wohlhabenden Investmentmanagerin aufgestiegen ist. Besonders allerdings, weil die Autorin ihr Buch ohne eigenen Verlag herausgebracht hatte.
Ihr Manuskript sei zuerst von mehreren Verlagen abgelehnt worden, sagt Witterick der Jüdischen Allgemeinen. »In der Welt der Verlage bin ich ziemlich unbedeutend.« Also entschließt sie sich, ihr Manuskript selbst zu verlegen. 5000 Bücher lässt sie auf eigene Kosten über den Self-Publisher iUniverse drucken. Ab März 2013 ist das Werk im Handel erhältlich. Nach einem Monat steht es auf der Sachbuch-Bestsellerliste. »Ich war ungeheuer glücklich und ziemlich überrascht«, so Witterick.
verkauf Der Verkauf läuft auch deshalb gut, weil die Autorin aus eigener Tasche Werbung an S-Bahnhöfen bezahlt und Anzeigen in Zeitungen schaltet. Wie viel Geld sie genau dafür ausgegeben hat, möchte sie jedoch nicht offenlegen. Der Verlag Penguin, dem auch iUniverse gehört, wird auf das Buch aufmerksam, schließt einen Vertrag mit Witterick und veröffentlicht My Mother’s Secret im September 2013 erneut.
Ein Problem für Witterick ist jedoch der Umstand, dass sie ihr Buch von Anfang an mit dem Hinweis vermarktet hat: »Nach einer wahren Begebenheit aus der Zeit des Dritten Reichs«. Blättert man in der deutschen Ausgabe, die im cbj-Verlag, einem Imprint des Branchenriesen Random House Bertelsmann herausgekommen ist, erscheint noch vor dem eigentlichen Text der Vermerk, dass die Figuren fiktional seien, ihr Erlebtes jedoch mit tatsächlichen Ereignissen übereinstimme. Die Autorin dankt allerdings dem Mut von Franciszka Halamajowa, der sie inspiriert habe. Schaut man in die englische Ausgabe bei Penguin, findet sich hingegen der Hinweis, dass Figuren, Handlungen und Orte komplett dem Kopf der Autorin entstammen. Alles andere sei Zufall.
vorlage Wahrheit, Fiktion, Erweiterung? Aus den Angaben in den Büchern und im Gespräch mit Witterick ergibt sich kein endgültig schlüssiges Bild.
»Ich habe mir einen Dokumentarfilm mit dem Titel No. 4 Street of Our Lady angesehen«, sagt sie freimütig. Und weiter: »Er handelt von Franciszka Halamajowa und ihrer Tochter Helena, die Juden in ihrem Haus versteckt haben und einen deutschen Soldaten. Und sie haben überlebt.«
Die in Tel Aviv lebende Journalistin Judy Maltz ist der Kopf hinter No. 4 Street of Our Lady. Jetzt verklagt sie Witterick und Penguin vor dem kanadischen Bundesgericht in Ottawa wegen Urheberrechtsverletzung auf insgesamt sechs Millionen kanadische Dollar. Denn einen Hinweis auf sie oder ihren Film sucht man vergebens in Das Geheimnis meiner Mutter.
Maltz’ Großvater Moshe versteckte sich von November 1942 bis zum 19. Juli 1944 auf dem Heuboden von Franciszka Halamajowa, gemeinsam mit seiner Frau, seinem sechsjährigen Sohn, seinen beiden Schwestern und dem Bruder, seiner Nichte sowie seiner Mutter. Zudem waren noch ein befreundeter Arzt, dessen Frau und die beiden gemeinsamen Söhne in dem Versteck. Zwölf Personen an einem mit Flöhen verseuchten Ort, den Moshe Maltz als mittelgroßes Zimmer mit niedriger Decke beschreibt. Später erfahren die Bewohner, dass Halamajowa auch einen 19-jährigen deutschen Deserteur auf ihrem Dachboden versteckt und eine weitere, dreiköpfige Familie unter ihrem Küchenboden. Selbst als sich die Wehrmacht bei ihr einquartiert, bleibt die resolute Bäuerin gefasst und lässt sich nichts anmerken.
In eindringlichen und prägnanten Worten beschreibt Moshe Maltz in seinem Tagebuch das Morden der Nazis, die Schikanen der Bevölkerung und schreckliche Ent scheidungen, die seine Familie treffen muss, um zu überleben. Als die vierjährige Nichte tagelang weint und dadurch alle zu verraten droht, beschließen die Erwachsenen, sie zu vergiften. Zur Erleichterung aller misslingt dies.
fanfiction Moshe Maltz’ Tagebuch ist ein eindringliches Zeitzeugnis. Nach seinem Tod ließ die Familie es aus dem Jiddischen ins Englische übersetzen und verlegte es 1993 in kleiner Auflage selbst.
Was das Tagebuch nicht aufklärt, sind die Motive von Franciszka Halamajowa. Warum setzte sie ihr Leben aufs Spiel, für Menschen, die sie nur flüchtig kannte? Warum versteckte sie Juden und Deutsche? Diesen Fragen widmete sich Judy Maltz in ihrem Dokumentarfilm, den sie 2009 herausbrachte.
J.L. Witterick möchte die Klage nicht kommentieren. Ihr Buch, in dem sie die Zahl der versteckten Juden auf sieben reduziert und eine Liebesgeschichte sowie ein Happy-End für den deutschen Soldaten einbaut, sei jedenfalls ein eigenständiges Werk. Der Hinweis auf tatsächliche Ereignisse sei im Bezug zur »geschichtlichen Epoche« zu sehen. Die Geschichte, die sie erzähle, sei reine Fiktion, für die sie sich an anderer Stelle inspirieren ließ: »Für viele meiner Erzähltechniken habe ich mir die Tribute von Panem zum Vorbild genommen.«
schönes ende Demnach wäre Das Geheimnis meiner Mutter im Bereich der sogenannten Fanfiction anzusiedeln. Dabei handelt es sich um Geschichten, die Fans eines Buchs schreiben, weil ihrer Meinung nach vielleicht das Schicksal einer Figur nicht ausreichend erzählt wurde oder weil sie sich ein schöneres Ende für jemanden wünschen, der im Original stirbt.
Das bekannteste Beispiel für Fanfiction ist die Sado-Maso-Schmonzette Shades of Grey. Ursprünglich war dies kein eigenständiges literarisches Werk, sondern wurde im Internet veröffentlicht und basierte auf Figuren aus der Vampirsaga Twilight. Als Tausende anderer Fans begannen, diesen Weiterdreh der Autorin E.L. James in kostenlosen Foren mit Begeisterung zu lesen, brachte sie es offiziell als E-Book heraus. James allerdings hat ihr Buch bis zur Unkenntlichkeit überarbeitet, bevor sie es an einen Verlag verkaufte. Ihre sexbesessenen Figuren haben nur wenig gemein mit den Teenager-Blutsaugern und deren keuschen Mormonen-Idealen.
prozess Aber soll ein Dokumentarfilm über ein Thema wie den Holocaust, der zudem nur auf kleinen Kunstfilmfestivals gezeigt wurde, wirklich geeignet sein, um daraus etwas vollkommen Neues entstehen zu lassen?
Das Geheimnis meiner Mutter weckt Erinnerungen an die Kontroverse um das Buch Axolotl Roadkill. Anfang 2010 verzückt das Debüt von Helene Hegemann das deutsche Feuilleton. Doch nach wenigen Wochen schlägt die Stimmung um. Die 17-Jährige hatte sich großzügig bei dem bis dahin unbekannten Autor Airen bedient. Ihr Verlag versucht, nachträglich zu retten, was sich längst zum größten Urheberrechtsskandal des deutschen Literaturbetriebs im Internetzeitalter verselbstständigt hat, auch dank Hegemanns Versuchen, ihr Buch als legitimen Remix zu rechtfertigen.
Inwieweit Wittericks Buch nun ein Plagiat darstellt oder ob die Kanadierin ein eigenständiges Werk erschaffen hat, ist mittlerweile zu einer Frage der Justiz geworden. Judy Maltz will sich zu dem Fall nicht äußern, solange es keine rechtskräftige Entscheidung gibt. Was sie von Wittericks Buch hält, lässt sich aber anhand der weit mehr als 60 Seiten umfassenden Klageschrift nachvollziehen. Darin wird Witterick unter anderem vorgeworfen, ohne Genehmigung große Teile der Geschichte von No. 4 Street of Our Lady übernommen und an 30 Stellen wortwörtlich oder nahezu wortwörtlich Textpassagen aus dem Film kopiert zu haben.
Es geht um das Verständnis der Finanzmanagerin Witterick für Urheberrechtsfragen. Ein Blick auf ihren offiziellen Facebook-Account lässt zumindest bezweifeln, ob sich die Kanadierin ernsthaft mit diesem Thema vertraut gemacht hat. Dort sind frei zugänglich Bilder von bekannten Naturfotografen wie Oleg Gordienko oder Carsten Peter zu sehen. Jeweils ohne Angabe von Fotoquellen.
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