Sie weinte, aber sie nahm.“ Mit dem ihm eigenen Sarkasmus beschrieb Preußenkönig Friedrich seine Rivalin Maria Theresia: Sie weinte, weil sie wusste, dass wohl für immer das reiche Schlesien dem Habsburgerreich entrissen ist. Sie weinte vielleicht auch, weil sie die Teilung Polens als großes Unrecht empfand – und voraussehend ahnte, dass böses Unheil die Folge sein werde. Aber sie nahm als Ersatz die Landstriche, die Galizien und Lodomerien genannt wurden, in Besitz, dazu noch, nach Ende des Russisch-Türkischen Krieges, wegen ihrer Vermittlerrolle die Bukowina.

Es waren die am weitesten im Osten liegenden und am wenigsten entwickelten Gebiete der Monarchie. Aber Maria Theresia und ihre Nachfolger taten, was sie für das Staatswesen am besten konnten: Sie richteten eine effiziente Verwaltung und eine funktionstüchtige Bürokratie ei. Hierzu wurden deutschsprechende Lehrer, Ärzte, Techniker, Juristen und Beamte eingebürgert, die Universität in Lemberg wurde neu gegründet (später kam unter Franz Joseph jene von Czernowitz hinzu) und es wurden Schulen gebaut. Dorthin schickte Robert Musil den Zögling Törleß ins Internat, „weitab von der Residenz, im Osten des Reiches, in spärlich besiedeltem, trockenem Ackerland“.

Doch ungeheures Potenzial ruhte „in so ferner, unwirtlicher Fremde“. Joseph Roth erzählt davon: „Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht isoliert; es ist verbannt, aber nicht abgeschnitten; es hat mehr Kultur, als seine mangelhafte Kanalisation vermuten lässt; viel Unordnung und noch mehr Seltsamkeit.“

Vor allem die jüdische Bevölkerung wusste das Potenzial zu nutzen. Die Liste ihrer Besten ist Legion: der lyrische Tenor Joseph Schmidt, aus Dawideny gebürtig; die Schriftsteller Rose Ausländer, Paul Celan, Erwin Chargaff, dieser auch eminenter Chemiker, alle drei geboren in Czernowitz; der Religionsphilosoph Martin Buber und die Schulreformerin Eugenie Schwarzwald, er aufgewachsen in Lemberg, sie in Czernowitz; der liberale Journalist Moritz Szeps, geboren in Busk – und dies sind nur einige, wahllos herausgegriffen.

Das Schtetl, in dem Manès Sperber geboren wurde, hieß Zablotow. Es war wie viele andere Kleinstädte auf dem Land bitter arm. Doch, so Sperber, „wie viele auch hungerten, niemand verhungerte“. „Es hat“, wie Joseph Roth schrieb, „seine eigne Lust, eigene Lieder, eigene Menschen und einen eigenen Glanz; den traurigen Glanz der Geschmähten.“

Der ökonomischen Misere stand die Illusion gegenüber, vom Glanz des Kaiserreiches zehren zu können: „Klein Wien“ nannte sich Czernowitz stolz; seine Einwohner verstanden sich als Buko-Wiener. „Vier Sprachen, Viersprachenlieder, Menschen, die sich verstehen“, schrieb Rose Ausländer und im gleichen Sinn Georg Drozdowski: „Bukowina, liebliches Land, Schrein vieler Sprachen und mancherlei Art.“ Die mannigfachen Katastrophen des 20.Jahrhunderts machten all dies zunichte.

Nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs, nach einer kurzen Zäsur des Friedens bemächtigten sich zwei Moloche des Landes. Hitler überzog es mit Mord, Stalin hinterließ eine Wüste. In der Ukraine, zu deren westlichstem Teil diese Gebiete nun gehören, wagen nun Menschen nach Jahrzehnten brutalster Unterdrückung den Versuch, der nach Osten gerichteten eisernen Klammer zu entkommen, die ihnen freie Entfaltung verwehrt, sie mit blanker Korruption beraubt.

Die Behörden reagieren unterschiedlich: Wer in Lemberg demonstriert, bekommt von seiner Firma frei. Wer dasselbe im fernen Osten in Donezk tut, wird verprügelt. Vom Westen erhoffen sich diese Menschen Zukunft. Wir aber sprechen politisch korrekt von Lviv statt von Lemberg. Geschichtsvergessen wollen wir davon einfach nichts wissen. In Luftlinie ist Lemberg von Wien weniger weit weg als Zürich. In unseren Köpfen aber ist es Lichtjahre von uns entfernt.

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(“Die Presse”, Print-Ausgabe, 06.02.2014)

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