Nach dem Kommunismus erlebte Polen ein kulinarisches Irrlichtern – Seit Kurzem wird aber besonders die galizische Küche wiederentdeckt

Krakau – Wenn aus dem Frühnebel die mittelalterliche Stadt Krakau auftaucht, ist der Verleger und Restaurantbesitzer Wojciech Ornat oft schon auf den Beinen. Sein Ziel ist der Stary Kleparz, der älteste Markt der südpolnischen Metropole. Er ist berühmt für seine große Auswahl an frischen Kräutern und getrockneten Gewürzen. Hier kauft Ornat wie viele andere Köche Krakaus fast täglich ein: Lauch und Gurken, Nüsse, Feigen, Thymian und Basilikum. Sein Restaurant, das Klezmer Hois mitten im alten Judenviertel Kazimierz, gilt als neuer Gourmettempel Krakaus. Ornat hat sich ganz und gar der jüdisch-galizischen Küche Südpolens verschrieben.

Erst seit wenigen Jahren entdecken die Polen ihre eigene kulinarische Tradition von neuem. Nach dem Niedergang des Kommunismus 1989 schwappte eine Fastfood-Welle über das Land, danach war die internationale Küche en vogue. Man wollte essen wie die Franzosen, Spanier und Japaner. Seit kurzem begeistern sich die Polen aber wieder für die eigenen Gerichte. Die Historikerin Anne Applebaum, Pulitzerpreisträgerin und Ehefrau des polnischen Außenministers Radoslaw Sikorski, beschreibt in ihrem Buch “In a Polish Country House Kitchen” einen Trend, der in den nächsten Jahren auch in anderen Teilen der Welt Aufsehen erregen werde: “La nouvelle cuisine de la Pologne!”

Alte Rezepte nachkochen

Sie ist so vielfältig wie die wechselhafte Geschichte des Landes. Im Westen prägen schlesisch-böhmische Gerichte wie Rindsrouladen, Rotkraut und Erdäpfel- und Germknödel die Speisekarten. Der Norden lockt mit Fisch und Brateräpfeln, während im südöstlichen Teil des Landes, im historischen Galizien mit Krakau in seinem Zentrum, österreichisch-ungarische, tschechische und jüdische Einflüsse die regionale Küche beeinflussen. Hier gibt es Gulasch auf knusprigen Erdäpfelpuffern und als Dessert Topfentörtchen, die mit heißer Schokolade übergossen sind.

Wojciech Ornat zeigt seinen Gästen das Klezmer Hois: “Im Mittelalter wurde Kazimierz als ‘Judenstadt’ vor den Toren Krakaus gegründet. Unser Haus diente der jüdischen Gemeinde lange Jahre als Mikwe, als rituelles Bad also. Während des Krieges beschlagnahmten die Deutschen das Gebäude” , erzählt der studierte Jurist. Nach 1945 verfiel das alte Judenviertel Kazimierz. Erst 1970 ließ die Krakauer Stadtverwaltung das Haus wiederaufbauen. “1995 erhielt die Gemeinde das von den Kommunisten enteignete Gebäude zurück und vermietete es an uns. Malgosia und ich haben uns dann bemüht, dem Haus wieder das alte Flair zurückzugeben.

Im Restaurant ist fast jeder Tisch besetzt. Wojciech empfiehlt den Gästen als Vorspeise Gefilte Fisch in Aspik, danach das klassische jüdische Eintopfgericht Tschulent (siehe Rezept), eventuell als Beilage noch eine Portion des Kartoffelauflaufs Kugl und zum Abschluss Charosset, ein Dessert aus Äpfeln, Karotten und Rosinen. “Viele Gäste lassen uns ihre alten Rezepte hier”, erzählt er. “Wir kochen sie nach, und hin und wieder nehmen wir eines in die Speisekarte auf.”

Drei Gänge sind Pflicht

Doch nicht nur die Ornats gehören zu den “Archäologen” der galizischen Küche in Krakau. Adam Gessler, dessen Name einer Familienlegende zufolge auf den “bösen Gessler” in der Schweizer Wilhelm-Tell-Legende zurückgehen soll, war bereits in Warschau erfolgreich. Vor kurzem eröffnete er ganz in der Nähe der Marienkirche und des Hauptmarktes zwei Restaurants – im renommierten Hotel Francuski und, nur ein paar Häuser weiter, im ehemaligen Grand Hotel.

“In Krakau nehmen sich die Menschen mehr Zeit für die schönen Dinge des Lebens”, erzählt Gessler. “Sie genießen das Essen. Ganz anders als im hektischen Warschau.” Sein Freund Wojciech Ornat nickt zustimmend. Oft wälzen sie zusammen Kochbücher aus vergangenen Jahrhunderten, um traditionelle galizische Gerichte aufzuspüren. Auf seiner Menükarte im U kucharzy (Bei den Köchen) findet sich viel Wild, Hering und Karpfen in süß-sauren Variationen, Erdäpfel, Rollgerste und Rüben. Krakau war über Jahrhunderte die Königsstadt Polens. Am Hof aß man Wildbret, Rebhuhn, Hasen- und Entenbraten, gerne auch flambiert – und natürlich Suppen.

Adam Gessler, eigentlich Theater- und Filmschauspieler, aber schon seit Jahren passionierter Koch und Restaurantbesitzer, erläutert: “In Krakau muss eine Mahlzeit immer drei Gänge haben. Das Wichtigste ist die Suppe. Ohne Suppe geht gar nichts.” Ein galizischer Klassiker und von vielen seiner Stammgäste besonders geschätzt sei der Zurek (ausgesprochen Schurek), die saure Roggenmehlsuppe mit Wurststückchen und einem halben hartgekochten Ei. Anders als Ornat macht Adam Gessler allerdings Zugeständnisse an den Zeitgeschmack und kocht leichter.

Wiener Kaffeehausatmosphäre

Den Schauspieler kann Gessler allerdings auch als Koch nicht ganz verleugnen: ein bisschen Theaterdonner muss sein. So werden die Gerichte auf einem fahrbaren Herd neben dem Tisch des Gastes zubereitet, ein Koch flambiert die knusprig braune Ente.

Zu den Kochfreunden, die sich ganz der Wiederentdeckung der galizischen Küche verschrieben haben, gehört auch Jan Baran. Sein Restaurant Pod Baranem (Zum Widder) liegt ganz in der Nähe des alten Königsschlosses Wawel. Bis heute rumpeln Straßenbahnen auf alten Gleisen durch die St.-Gertruden-Straße vor seinem Restaurant. Ähnlich wie im Klezmer Hois verkehren auch in diesem Lokal viele Künstler.

In Krakau ist man stolz auf seine Künstler. Bis heute genießt die Stadt den Ruf, Kulturhauptstadt Polens zu sein. “Viele Schriftsteller lieben die wienerische Kaffeehausatmosphäre und wohnen zumindest ein paar Jahre in Krakau”, sagt Wojciech Ornat. Und gehen dann auch zu Jan Baran essen.

Barans Erfolgsrezept: Er serviert einfache Gerichte wie die hausgemachten Piroggen auf edlen, alten Porzellantellern. Schon nach den ersten Bissen kommen Kindheitserinnerungen auf: Es schmeckt “wie bei Mutter” oder gar “wie bei der Großmutter”, findet Wojciech Ornat und gönnt sich nach dem dreigängigen Mahl ein Gläschen hausgemachten Kirschlikörs. Jan Baran prostet seinem Freund zu: “auf die galizische Küche!” (Gabriele Lesser, DER STANDARD, 6.8.2013)

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