Von Bernadette Lietzow

Wien – Die erschreckend unbekannte Geschichte der Gräuel während des Ersten Weltkrieges findet seit der Festwochen-Uraufführung von Miroslav Krležas „Galizien“ am vergangenen Donnerstag im Wiener Volkstheater ihre Bühnenentsprechung. Es ist das Mittelstück eines dreiteiligen, langen Abends, das tief versinkt im verzweifelten Dreck und der zynischen Unmoral des anfänglich begeistert begrüßten Weltenbrandes. Der junge Pianist Horvat, Kadett an der Ostfront und vom dumm-sadistischen Oberleutnant (schaurig: Norman Hacker) zur Hinrichtung einer alten Frau gedungen, wird an der Ödnis und der Gewalt zerbrechen. Shenja Lacher gibt ihm überzeugende Gestalt, in einem nicht ganz plausiblen, vielleicht als realistische Überhöhung zu bezeichnenden Konzept.

Ist in „Galizien“, an dessen Front der junge Autor und spätere Tito-Berater Miroslav Krleža (1893–1981) auf Seiten der österreichischen Armee gedient hat, „Dreck“ die Metapher des Ganzen, so mag es für die Nummer eins des Abends, das am Vorabend des Krieges angesiedelte Familiendrama „Die Gemblays“, das Wort „überspannt“ sein. Als überspannt gilt der nach langen Jahren in das verhasste großbürgerlich-plüschige Elternhaus (Bühne und Kostüme: Annette Murschetz und Heide Kastler) zurückgekehrte Künstler Leo Gemblay (hervorragend: Johannes Zirner). Er wird bis in den buchstäblichen Tod seines Vaters (Manfred Zapatka) und seiner Stiefmutter (Sophie von Kessel) in den Untiefen der verschwiegenen, verlogenen Familiengeschichte wühlen und deren Opfer benennen. „Müde“ ist das Schlüsselwort des im Jahr 1922 angesiedelten und Kusejs Long-Play-Unternehmen den Namen gebenden dritten Teils „In Agonie“. Das Beziehungsdrama um die sich als Schneiderin versuchende Baronin mit versoffenem, spielsüchtigem Rittmeister-Ehemann und durchtriebenem, karrierebewusstem Berater-Liebhaber birgt große Kammerspielqualitäten, allein Britta Hammerstein in der Rolle der Laura kann sie nicht einlösen. So müssen auch Markus Hering und Tom Radisch, Liebhaber und Ehemann, trotz großen Könnens blass bleiben.

Verdienst des Regisseurs Martin Kušej und des Ensembles des von ihm geleiteten Münchner Residenztheaters, wo übrigens „In Agonie (Die Glembays, Galizien, In Agonie)“ ab Juni zu sehen sein wird, ist es, die tiefen Gräben aufzureißen, die der Erste Weltkrieg in das mitteleuropäische Bewusstsein geschlagen hat. Als restlos geglückt kann man das kroatische Weltkriegspanorama, das Kušej versucht hat, auf die Bühne zu stemmen, keinesfalls bezeichnen, und dennoch bleiben Bilder eines tieferen Verständnisses dieses zu weiteren Katastrophen führenden Erdbebens und ersten Maschinenkrieges. Ermatteter Applaus nach sechs Stunden.

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