Die Presse: Europa ist trotz der Wirtschaftskrise so reich wie noch nie. Trotzdem können sich Europas Politiker nicht einmal darauf einigen, wie sie im EU-Budget ein knappes Prozent der Wirtschaftsleistung ausgeben wollen – und das ist nicht die einzige Blockade. Was ist da los?

Anna Kim: Es ist sehr eigenartig, dass so viel gestritten wird. Und was ich sehr befremdend finde, ist die mangelnde Solidarität. Wenn man gemeinsam so einen Grad an Wohlstand erreicht hat, sollte man meinen, dass man entdeckt, dass man ihn nur erhalten kann, wenn man zusammenhält. Wenn die Geschichte etwas gezeigt hat, dann das, dass es in Krisenzeiten besser ist, zusammenzuhalten. Deshalb wundert es mich schon, dass die Leute nicht ein bisschen vernünftiger sind. Vielleicht fehlt es auch an Idealismus: die EU nicht nur als reines Wirtschaftsbündnis zu sehen, sondern auch als Friedensbündnis, wie es ursprünglich gedacht war von den Gründern. Deswegen habe ich mich sehr über den Friedensnobelpreis gefreut. Ich hab das weniger als Belohnung gesehen, sondern als Zeichen der Aufforderung.


Als Aufforderung wozu?

Zurückzugehen zu dem, was es ursprünglich war: mehr Solidarität, mehr Zusammenhalt. Sich dessen bewusst zu sein, dass Frieden in Europa zu diesem Wohlstand geführt hat, von dem wir vorhin gesprochen haben. Und dass es nur unter friedlichen Bedingungen möglich ist, diesen Wohlstand zu erhalten. Also eine Aufforderung weg von dem ganzen Griechenland-Mobbing und Deutschland-Mobbing, das ja auch stattfindet. Es gibt ja praktisch kein Land, das nicht gegen ein anderes mobbt. Vielleicht wäre das auch eine Aufforderung an bestimmte Boulevardmedien, sich ein bisschen zurückzuhalten.


Einer der Gründerväter, die Sie angesprochen haben, war Jean Monnet. Er hat einmal gesagt: Wir verbinden keine Staaten, wir vereinen Menschen.” Scheitert das gerade?

Ich hoffe nicht – und ich glaube nicht. Ich bin ja nicht so ein großer Freund der Wirtschaft, aber in dem Fall muss ich sagen, dass das diesen großen und guten Nebeneffekt hat, dass wir voneinander abhängig sind. Und vielleicht sollte man auch sagen: Das ist etwas, was wir nicht auflösen wollen, weil wir nicht nur in einem wirtschaftlichen, sondern auch einem kulturellen Austausch stehen. Wir sollten es als Chance begreifen, dass wir ein Kontinent sind. Es ist eine wunderschöne Sache, dass man durch das Schengen-Abkommen so frei reisen kann. Es gibt doch nichts Schlimmeres, als wenn man endlos lang an der Grenze steht und sich wie ein Verbrecher fühlt, weil man so wahnsinnig genau kontrolliert wird.

Ich warte seit längerer Zeit auf den großen europäischen Roman zur Krise. Aber ich sehe ihn nirgendwo.

Ich glaube, der wird gerade geschrieben.

Es gibt auch keinen großen Roman über das europäische Einigungswerk. Wieso nicht?

Ich glaube, das liegt daran, dass sich kein Schriftsteller als europäischer Schriftsteller sieht. Das ist das Problem an dem Kontinent, dass jeder so darauf pocht, verschieden zu sein. Das befremdet mich. Es wird ja sonst immer so gerne über „Asien” und „Afrika” gesprochen. Aber bei „Europa” sind sie alle sehr dahinter, die Unterschiede zu betonen und nicht das Verbindende. Das ist wohl der Grund, warum sich bisher noch niemand literarisch mit Europa beschäftigt hat. Weil man eigentlich mit Europa nichts anfangen kann.

Am ehesten kann man die EU vielleicht mit dem späten Habsburgerreich vergleichen: Viele Völker, riesengroß, zentral gesteuert, aber eigentlich wusste in Wien niemand so recht, was in Galizien oder der Bukowina vor sich geht. Darüber gibt es eine Fülle an großer Literatur. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis Schriftsteller die EU ähnlich sehen?

Zeit hätten wir eigentlich schon relativ viel gehabt. Aber es wirkt so, als gäbe es kein Bewusstsein dafür, Europäer zu sein. Die Frage ist, ob durch die Krise, durch dieses bedeutende Ereignis, sich die Autoren darauf besinnen, dass wenn das Geld hier zu wenig ist, ist es da auch zu wenig. Dass sich Krisen fortpflanzen, dass die Bedrohung einer Existenz verkettet ist, dass eine Existenz nicht allein sein kann. Das hat mein Bewusstsein zumindest sehr verstärkt – nicht, dass ich jetzt vorhabe, einen europäischen Roman zu schreiben.

Schade.

Wenn man die Wirtschaftskrise als literarisches Thema nimmt, könnte man sehr gut berichten, indem man sehr weit streut.

Entwickelt man also an großen gesellschaftlichen, politischen Phänomen erst dann ein Interesse, wenn etwas arg schief läuft? Wir haben fantastische deutsche Literatur aus der Bewältigung der DDR bekommen, fantastische französische Literatur aus der Bewältigung der Kolonialkrieg in Indochina und Algerien: beide Male geht es um eine dunkle Vergangenheit.

Das stimmt. Es ist auch sehr schwierig, über die Gegenwart zu schreiben, weil der Abstand fehlt und weil die Sichtweise zu subjektiv ist. Wenn man etwas ernsthaft betreiben möchte, dann fragt man sich schon: Inwieweit ist das gerechtfertigt, inwieweit ist die Beeinflussung zu stark, als dass ich etwas Allgemeingültiges dazu sagen könnte? Andererseits ist das auch ein Produkt von unserer Auffassung von Literatur: Wir glauben, wir müssen etwas für die Ewigkeit schaffen, und es muss allgemeingültig sein. Es ist die Frage, ob das nicht veraltet ist. Ob wir nicht dazu stehen sollten, dass das, was wir schreiben, zutiefst subjektiv ist und vielleicht auch nur für eine bestimmte Zeit gültig. Das schmälert meiner Ansicht nach den Wert nicht. Ich hätte aber auch nichts gegen Bücher, die mit der Zeit verschwinden.

Das müssen Sie mir jetzt erklären.

Na ja, ich finde die Idee sehr schön, ein Buch zu haben, das nur eine bestimmte Zeit lang existiert. Ein Buch mit Ablaufdatum, das heute auf den Markt kommt, und in 50 Jahren ist es so verblasst, dass es nicht mehr da ist. Ich finde diesen Gedanken von Vergänglichkeit hat etwas sehr schönes, weil er bedeutet, dass diese Zeilen nur eine bestimmte Zeit lang zugänglich sind. Danach existiert nur mehr die Erinnerung daran.

Solche vergänglichen Bücher gibt es, seit Bücher gemacht werden. Wir entdecken ständig Autoren, die im 17. oder 18. Jahrhundert wahnsinnig en Vogue waren, die seither aber kein Mensch mehr liest.

Dass wir in Vergessenheit geraten, davon gehe ich sowieso aus. Aber vielleicht sollten wir dementsprechend unseren Anspruch ändern. Und dann wäre es auch möglich, über die Gegenwart zu schreiben. Ich denke auch, dass es wichtig ist, dass Literatur subjektiver wird. Weil wir uns dann mehr aufregen können. Wir alle schreiben zur Zeit Sachen, die möglichst unangreifbar sind, in denen die Emotionalität sehr gering gehalten ist, weil wir nicht angreifbar sein wollen. Wenn wir aber über die aktuelle Situation schreiben würden, würden wir uns angreifbar machen, weil wir tatsächlich Stellung beziehen müssten. Und das ist natürlich ein Risiko.

Jonathan Franzen musste sich nach seinem Roman „Freedom” auch allerlei Fragen anhören, wie er zur Tea Party steht oder einem eher linksliberalen Staatswesen.

Das gehört ja zum Geschäft. Es ist seltsam, Autor sein zu wollen und sich überhaupt nicht auszusetzen. Weil: Was ist ein Buch anderes als die Meinung eines Menschen? Selbst wenn ich einen Kriminalroman von Agatha Christie nehme: Natürlich ist das ein Roman, Fiktion, aber das sind alles Ausreden. Es läuft darauf hinaus, dass das ihre Meinung ist.


Ihr neues Buch „Anatomie einer Nacht” handelt in Grönland – einem Ort, der für die meisten Mitteleuropäer sehr exotisch und fremd ist. Gleichzeitig wirkt das Geschehen dort sehr vertraut: Ständig sieht man, wie das fortschrittliche Dänemark versucht, diese „Wilden” zu ihrem Besseren zu formen. Und das scheitert ganz furchtbar. Ist das ein singuläres Problem, das Dänemark mit seiner kolonialen Vergangenheit hat?

Ich glaube definitiv nicht, dass das ein rein dänisches Problem ist. Das betrifft alle Randgruppen und generell Migranten. Es geht da konkret um das Problem der Assimilation und der Integration. Weil die Forderung: Assimiliere dich, und dann wirst du integriert, die geht immer einher. Eigentlich ist Integration eine Form von Erziehung. Für mich ist Kolonialpolitik nur die Vorgängerin von moderner Assimilationspolitik.

Wenn aber sogar so eine furchtbar gewissenhafte, alles richtig machen wollende Gesellschaft wie die dänische noch immer so ein handfestes Problem hat mit Menschen, die nicht dazu passen – was heißt das dann für Europa?

Das interessante an der Grönland-Sache war, dass man in den 1950er-Jahren begonnen hat, vom „neuen Menschen” zu sprechen. Der ist nicht nur Inuit, sondern auch Däne. Ich habe den Eindruck, dass die europäische Gesellschaft sich gerade auch in eine Mischform entwickelt und einen neuen, modernen Menschentypus kreieren möchte. Ich habe Broschüren gelesen über die EU und Mehrsprachigkeit, wo es Formulierungen gibt wie: „Wir wollen, dass der typische Europäer mindestens drei Sprachen fließen soll.” Es gibt also bestimmte Pflichten, die ein moderner Europäer zu tragen hat. Vielleicht sind wir im Zuge der Krise dabei, eine neue Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu finden, wozu auch ein neuer Menschentypus, ein neuer Europäer dazugehört. Und das ist natürlich eine schwierige Geburt.

Die „neuen Menschen” in Ihrem Buch scheitern aber an diesem Modell. Sie tragen dänische Namen, aber sie sind weder in ihrer Heimat noch in Kopenhagen daheim.

Das stimmt schon. Dazu muss man aber sagen, dass die dänische Kolonialpolitik relativ unsanft war. Die Grönländer sprechen interessanterweise von Kolonialisierung erst seit 1951, also dem Zeitpunkt, wo sie ein Teil Dänemarks und keine Kolonie mehr waren. Davor sehen sie sich weniger als Kolonialopfer als danach. Das hängt sehr stark mit dieser Modernisierung zusammen, die Dänemark damals betrieben hat. Was wir daraus lernen könnten, wäre, dass es sicherlich nicht funktioniert, eine Gesellschaft von heute auf morgen von Grund auf ändern zu wollen. Was bedeutet es modern zu sein? Diese Forderung wäre für mich absurd.

 

(“Die Presse”, Print-Ausgabe, 23.11.2012)

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