Ein Kind wird geboren im fernen Galizien. Ein Kind stirbt und wird zu Grabe getragen. Seine Familie zerbricht daran. Der Vater emigriert, die Mutter gerät auf die schiefe Bahn. Oder nicht? Vielleicht hätten die Eltern das Kind retten können. Vielleicht hätte es noch eine Schwester bekommen und wäre zu einer schönen jungen Frau herangereift. In jedem Leben stecken eine Vielzahl von Möglichkeiten. Es sind nur Zufälle, die entscheiden, ein flüchtiges Ereignis, ein gedankenloser Entschluss. Darum geht es in Jenny Erpenbecks neuem Buch.

Seit der Veröffentlichung ihres Erstlingswerks „Geschichte vom alten Kind“ 1999 zählt die Theaterwissenschaftlerin zu den interessantesten Schriftstellerinnen ihrer Generation. Ihr aktueller Roman beginnt mit der Geburt des Mädchens 1902 und endet nach der Wende 1992. Das wäre die Langversion, die glückliche Variante. Dann würde das Mädchen nach einem ereignisreichen Leben im Altersheim sterben. Ihr Leben könnte aber auch schon nach dem ersten Kapitel seinen abrupten Abschluss finden. Weitere Varianten wären: Als lebensmüder Teenager begeht sie im kärglichen Nachkriegs-Wien Selbstmord. Oder: Sie wird Genossin, endet aber in einem Straflager Stalins. Oder: Sie überlebt die Stalinzeit und wird in der DDR zur gefeierten Schriftstellerin.

Der Roman ist streng komponiert. Zwischen den Kapiteln ist jeweils ein Intermezzo eingeschaltet. Die Handlungsfäden werden geschickt gesponnen, nichts und niemand bleibt im Raum stehen. Besonders beeindruckend, voll poetischer Kraft, sind die beiden ersten Kapitel.

Zunächst beschreibt Erpenbeck das archaisch anmutende Leben einer jüdisch-christlichen Familie in einem kleinen Ort in Galizien. Atmosphärisch dicht schildert sie die Abfolge von Schicksalsschlägen. Gegenüber diesem starken Auftakt fallen diespäteren Kapitel etwas ab.

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