Vielleicht hätten die Eltern das Kind retten können. Vielleicht wäre dann aus dem Säugling ein Kleinkind geworden, das an der Hand der Mutter laufen gelernt hätte. Später hätte das Kind noch eine Schwester bekommen und wäre mit seiner Familie nach Wien gezogen. Es wäre zu einer schönen jungen Frau herangereift mit roten Haaren und weißer Haut.

In jedem Leben stecken eine Vielzahl von Möglichkeiten. Es kann nur wenige Monate währen oder ein ganzes Jahrhundert. Es kann glücklich verlaufen oder tragisch. Es sind nur Zufälle, die darüber entscheiden, kurze Momente, ein flüchtiges Ereignis, ein gedankenloser Entschluss – und schon läuft alles ganz anders. Darum geht es in Jenny Erpenbecks neuem Buch «Aller Tage Abend». Seit der Veröffentlichung ihres Erstlingswerks «Geschichte vom alten Kind» 1999 zählt die 45-jährige gelernte Theaterwissenschaftlerin nach Meinung vieler Kritiker zu den interessantesten Schriftstellerinnen ihrer Generation. Das beweist sie auch wieder mit ihrem aktuellen Roman.

Das Buch der Berliner Autorin umfasst einen Zeitraum von 90 Jahren, aufgeteilt in fünf Kapitel. Es beginnt mit der Geburt des Mädchens im Jahre 1902 und endet nach der Wende 1992. Das wäre sozusagen die Langversion, die glückliche Variante. Dann würde das Mädchen nach einem ereignisreichen Leben als tüddelige alte Frau im Altersheim sterben. Ihr Leben könnte aber auch schon nach dem ersten Kapitel seinen abrupten Abschluss finden, eben als Säugling in Galizien.

Weitere Varianten wären: Als lebensmüder Teenager begeht sie im kärglichen Nachkriegs-Wien Selbstmord. Oder: Sie begeht doch keinen Selbstmord, wird vielmehr Genossin, endet dann aber in einem Straflager Stalins in Sibirien. Oder: Sie überlebt die Willkür der Stalinzeit und wird in der DDR zu einer gefeierten Schriftstellerin. Sie stirbt hochgeehrt «kurz vor Vollendung ihres sechsten Lebensjahrzehnts».

An einer Stelle heißt es über das Schicksal der Heldin: «Eine ganze Welt aus Gründen gab es, warum ihr Leben nun an ein Ende gekommen sein könnte, wie es gleichzeitig eine ganze Welt aus Gründen gab, warum sie jetzt noch am Leben sein könnte und sollte.»

Der Roman ist streng komponiert. Zwischen jedem Kapitel ist ein Intermezzo eingeschaltet, das zur nächsten Variante überleitet. Die Handlungsfäden werden geschickt weitergesponnen, nichts und niemand bleibt im Raume stehen. Besonders beeindruckend, weil voll poetischer Kraft, sind die beiden ersten Kapitel. Zunächst beschreibt Erpenbeck das archaisch anmutende Leben einer jüdisch-christlichen Familie in einem kleinen Ort in Galizien.

Atmosphärisch dicht schildert sie die Abfolge von Schicksalsschlägen, die die Familie heimsuchen. Der Großvater der Neugeborenen wird von Polen erschlagen. Die Mutter heiratet einen Goj, einen Christen, einen österreichischen Bahnbeamten. Durch die Ehe mit einer Jüdin stagniert dessen Karriere, er bleibt schlecht bezahlter Beamter «elfter Klasse». Den Tod des Säuglings verwinden die Eltern nicht, die Familie löst sich auf.

Bedrückend ist auch die Szenerie im zweiten Kapitel. Die Familie krebst auf niedrigstem Niveau in einem hungernden und fröstelnden Wien, das zudem noch von der Spanischen Grippe heimgesucht wird. In dieses düstere Szenario passt der sinnlose Selbstmord der Tochter. Gegenüber diesem starken Auftakt fallen die späteren Kapitel etwas ab.

«Der Zufall ist der einzige legitime Herrscher des Universums», hat Napoleon einmal gesagt. Auf jeden Fall spielt er auf wundersame und erschreckende Weise Schicksal in unserem Leben. Das zeigt uns Jenny Erpenbeck mit ihrem Buch.

Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend. Knaus Verlag, München, 240 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-8135-0369-2

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