Berlin (dpa)
Ein Kind wird geboren im fernen Galizien. Ein Kind stirbt und wird zu Grabe getragen. Seine Familie zerbricht daran. Der Vater emigriert heimlich nach Amerika, die Mutter gert auf die schiefe Bahn. Oder doch nicht?

Jenny Erpenbeck in ihrem neuen Roman eine Frau fnfmal sterben und wiederauferstehen. Foto: Arno Burgi

Vielleicht htten die Eltern das Kind retten knnen. Vielleicht wre dann aus dem Sugling ein Kleinkind geworden, das an der Hand der Mutter laufen gelernt htte. Spter htte das Kind noch eine Schwester bekommen und wre mit seiner Familie nach Wien gezogen. Es wre zu einer schnen jungen Frau herangereift mit roten Haaren und weier Haut.

In jedem Leben stecken eine Vielzahl von Mglichkeiten. Es kann nur wenige Monate whren oder ein ganzes Jahrhundert. Es kann glcklich verlaufen oder tragisch. Es sind nur Zuflle, die darber entscheiden, kurze Momente, ein flchtiges Ereignis, ein gedankenloser Entschluss – und schon luft alles ganz anders. Darum geht es in Jenny Erpenbecks neuem Buch Aller Tage Abend. Seit der Verffentlichung ihres Erstlingswerks Geschichte vom alten Kind 1999 zhlt die 45-jhrige gelernte Theaterwissenschaftlerin nach Meinung vieler Kritiker zu den interessantesten Schriftstellerinnen ihrer Generation. Das beweist sie auch wieder mit ihrem aktuellen Roman.

Das Buch der Berliner Autorin umfasst einen Zeitraum von 90 Jahren, aufgeteilt in fnf Kapitel. Es beginnt mit der Geburt des Mdchens im Jahre 1902 und endet nach der Wende 1992. Das wre sozusagen die Langversion, die glckliche Variante. Dann wrde das Mdchen nach einem ereignisreichen Leben als tddelige alte Frau im Altersheim sterben. Ihr Leben knnte aber auch schon nach dem ersten Kapitel seinen abrupten Abschluss finden, eben als Sugling in Galizien.

Weitere Varianten wren: Als lebensmder Teenager begeht sie im krglichen Nachkriegs-Wien Selbstmord. Oder: Sie begeht doch keinen Selbstmord, wird vielmehr Genossin, endet dann aber in einem Straflager Stalins in Sibirien. Oder: Sie berlebt die Willkr der Stalinzeit und wird in der DDR zu einer gefeierten Schriftstellerin. Sie stirbt hochgeehrt kurz vor Vollendung ihres sechsten Lebensjahrzehnts.

An einer Stelle heit es ber das Schicksal der Heldin: Eine ganze Welt aus Grnden gab es, warum ihr Leben nun an ein Ende gekommen sein knnte, wie es gleichzeitig eine ganze Welt aus Grnden gab, warum sie jetzt noch am Leben sein knnte und sollte.

Der Roman ist streng komponiert. Zwischen jedem Kapitel ist ein Intermezzo eingeschaltet, das zur nchsten Variante berleitet. Die Handlungsfden werden geschickt weitergesponnen, nichts und niemand bleibt im Raume stehen. Besonders beeindruckend, weil voll poetischer Kraft, sind die beiden ersten Kapitel. Zunchst beschreibt Erpenbeck das archaisch anmutende Leben einer jdisch-christlichen Familie in einem kleinen Ort in Galizien.

Atmosphrisch dicht schildert sie die Abfolge von Schicksalsschlgen, die die Familie heimsuchen. Der Grovater der Neugeborenen wird von Polen erschlagen. Die Mutter heiratet einen Goj, einen Christen, einen sterreichischen Bahnbeamten. Durch die Ehe mit einer Jdin stagniert dessen Karriere, er bleibt schlecht bezahlter Beamter elfter Klasse. Den Tod des Suglings verwinden die Eltern nicht, die Familie lst sich auf.

Bedrckend ist auch die Szenerie im zweiten Kapitel. Die Familie krebst auf niedrigstem Niveau in einem hungernden und frstelnden Wien, das zudem noch von der Spanischen Grippe heimgesucht wird. In dieses dstere Szenario passt der sinnlose Selbstmord der Tochter. Gegenber diesem starken Auftakt fallen die spteren Kapitel etwas ab.

Der Zufall ist der einzige legitime Herrscher des Universums, hat Napoleon einmal gesagt. Auf jeden Fall spielt er auf wundersame und erschreckende Weise Schicksal in unserem Leben. Das zeigt uns Jenny Erpenbeck mit ihrem Buch.

Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend. Knaus Verlag, Mnchen, 240 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-8135-0369-2

Jenny Erpenbeck bei Knaus

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