Ein Fußballer ist ein Fußballer ist ein Fußballer und kein Historiker. Als Michel Platini vor fünf Jahren verkündete, Polen und die Ukraine würden gemeinsam die Fußball-EM austragen, die am Freitag beginnt, ahnte er wohl nicht, dass er die Bewerbung zweier Nationen würdigte, die auf eine der bis heute schwierigsten Nachbarschaften Europas zurückblicken. Prompt tappte die Uefa in die Falle: Als sie auf ihrer Internetseite die ukrainische Version übernahm, wonach Lemberg (Lwiw), Spielort der deutschen Elf am Samstag, jahrhundertelang “von Polen besetzt” gewesen sei, hagelte es aus dem Nachbarland Proteste.

Die gemeinsame Geschichte ist eine asymmetrische, und das macht es Polen und Ukrainern besonders schwer, sich auf eine gemeinsame Sicht zu verständigen. Die Ukrainer hatten, von kurzen Episoden abgesehen, bis zum Zerfall der Sowjetunion 1991 nie einen eigenen Staat, waren Verfügungsmasse und Spielball ihrer stärkeren Nachbarn. Einer der Nachbarn war Polen, das auf – von der Teilungszeit unterbrochene – tausend Jahre Staatstradition zurückblickt.

Getrennte christliche Wege

Zwar gab es bereits im 10. Jahrhundert ein Reich, die Kiewer Rus, die damals, fast gleichzeitig mit Polen, das Christentum annahm; allerdings nicht von Rom, sondern von Konstantinopel her, womit sich die Wege trennten: Polen wurde römisch-katholisch und erhielt die lateinische, die Rus wurde orthodox und bekam die kyrillische Schrift. Auf diese von Warägern aus Skandinavien gegründete Rus als Vorläufer berufen sich heute sowohl Russland wie die Ukraine. Doch das Reich verfiel, und es bildeten sich andere Fürstentümer, etwa jenes mit Sitz in Lemberg: das Fürstentum Halytsch (daher der Name Galizien).

Bald wurden das Land und die Menschen wieder zum Objekt stärkerer Akteure: des aufstrebenden Moskauer Staates im Norden, des polnisch-litauischen Doppelstaats im Westen, der Tataren auf der Krim im Süden. Da bildete sich im 16. Jahrhundert auf den “wilden Feldern”, Polens wildem Osten, zwischen Dnjepr und Dnjestr eine eigentümliche Bevölkerungsgruppe heraus: die Kosaken, die großenteils von geflohenen Bauern abstammten.

Mit zehntausenden bewaffneter Krieger waren die Kosaken ein ungemütlicher Nachbar für Polen, vor allem, als 1648, mit Ende des Dreißigjährigen Krieges, ein gewaltiger Kosakenaufstand ausbrach. Er wurde in Polen von Henryk Sienkiewicz im Roman “Mit Feuer und Schwert” zum Mythos erhoben.

Teilung zwischen Russland und Polen

Zweimal wurde das Schlachtengemälde in Polen verfilmt, zuletzt 1999 von Jerzy Hoffman, wobei der wohl beliebteste ukrainische Schauspieler Bohdan Stupka den Kosakenführer Chmelnizkij spielte, das Bond-Girl Izabella Scorupco das gefährdete polnische Fräulein. Der Film begeisterte in Polen ein Millionenpublikum, dem das Zusammentreffen der polnischen Adelsrepublik mit den “wilden” Kosaken und Tataren als Schullektüre vertraut war.

Der Aufstand scheiterte jedoch, und die Länder der heutigen Ukraine gingen links des Dnjepr an Russland, rechts an Polen. Als ein gutes Jahrhundert später Polen geteilt wurde, waren Polen und Ukrainer gemeinsam unter der Fremdherrschaft. Doch das zementierte die Fronten eher, als dass sie Gemeinschaft stiftete.

Für die ukrainischen Bauern waren nämlich die adeligen polnischen Landbesitzer der Feind und nicht die ferne Regierung in Wien oder Moskau. Als 1846 in Krakau polnische Freiheitskämpfer einen Aufstand gegen die österreichische Herrschaft inszenierten, wurde er schnell niedergeschlagen. Den Hauptanteil daran trugen ukrainische Milizen bei, die – von den kaiserlichen Behörden ermuntert – sich gegen ihre Herren erhoben.

Die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts

So war es kein Wunder, dass sich die ukrainische Nationalbewegung im österreichisch beherrschten Galizien entfalten konnte. Mit dem Zerfall der drei Reiche in Mittel- und Osteuropa 1918 entluden sich die Ansprüche auf Städte wie Lemberg in heftigen polnisch-ukrainischen Kämpfen, an denen selbst Schuljungen teilnahmen. Galizien wurde polnisch, wobei aber nur wenige Städte wie Lemberg (ukrainisch Lwiw) auch eine polnische Bevölkerungsmehrheit hatten. Doch die Polen stellten weiterhin die Oberschicht und die Großgrundbesitzer, während die Ukrainer zumeist einfache Bauern waren und blieben.

Das traurigste Kapitel der neueren Geschichte beginnt für beide Völker mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Ermordung der Juden, der Terror beider Besatzungsmächte gegen die Polen und der Versuch beider, die Ukrainer als Verbündete zu gewinnen und als Kanonenfutter einzusetzen, haben das Antlitz dieser Region verwüstet.

Damit nicht genug: Als die Rote Armee 1943 wieder näher rückte, nutzten Partisanen der “Ukrainischen Aufstandsarmee” UPA die Gelegenheit, gegen die polnische Bevölkerung Galiziens und vor allem des nördlich gelegenen Wolhyniens vorzugehen. Diese ethnische Säuberung hat Zehntausende Polen das Leben gekostet.

Erinnerungen an Massaker

Polnische Partisanen schlugen zurück. All das war ein Vorspiel zur Verschiebung der Grenzen nach Westen und der Vertreibung der verbliebenen ostpolnischen und später auch der ostdeutschen Bevölkerung. Die Fragen, wer im Krieg mit wem kollaborierte und warum, sorgen bis heute auf beiden Seiten für Streit.

Wolhynien ist bis heute ein Reizwort geblieben. Polnische Opferverbände pflegen die Erinnerung an die Massaker, während vor allem die Westukraine ihre Partisanen als Vorkämpfer der Unabhängigkeit feiert und der Opfer polnischer Partisanen gedenkt. Kann es da überhaupt Annäherung geben?

Bedeutende Intellektuelle, Bürgerrechtler und Emigranten, vor allem der Pariser Verleger Jerzy Giedroyc (Pole) und der Berliner Historiker Bohdan Osadczuk-Korab (Ukrainer), haben jahrzehntelang für die Versöhnung gearbeitet. Seit den Neunzigerjahren haben viele, selbst postkommunistische Politiker, etwa die Präsidenten Polens, Aleksander Kwasniewski, und der Ukraine, Leonid Kutschma, diese Anregungen aufgenommen, gemeinsam Denkmäler und Soldatenfriedhöfe eingeweiht.

Der ideale Gleichklang war 2004 erreicht, als die Ukraine im Bürgerprotest gegen Wahlfälschungen, die schon damals Viktor Janukowitsch zum Präsidenten machen sollten, ihr verspätetes 1989 erlebte. Jetzt schien der Weg auch der Ukraine in die EU offen. Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt. Zwar bleibt Polen für die Ukraine in vielem Vorbild und Partner, doch umgekehrt ist das Land jenseits der Grenze am Bug zu einem schwierigen Nachbarn geworden. Das Motto der EM (“Wir schreiben gemeinsam Geschichte”) wirkt so wie ein nicht eingelöstes Versprechen.

Nationaltrachten aus Polen
© IMAGNO
Angehörige der polnischen Adelsnation stellten über Jahrhunderte hinweg bis weit in die Ukraine hinein die Grundbesitzer

Kosaken
© akg
Ihnen entzogen sich die Kosaken, die im Osten der Ukraine eigene Herrschaften errichteten und immer wieder gegen die benachbarten Reiche zu Felde zogen

Sienkiewicz-Verfilmung
© CAF
Den großen Kosakenaufstand von 1648 bis 1651 hat der polnische Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz in seinem Roman “Mit Feuer und Schwert” thematisiert. 1999 verfilmte Jerzy Hoffman den Stoff

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