Der Holocaust hat diese jüdische Lebenswelt ausgelöscht. In den USA, in die viele Schtetl-Bewohner vor Armut und Verfolgung geflohen waren, erlebte sie eine Renaissance – in den Geschichten jüdischer Autoren wie Joseph Stein. Er schrieb das Buch zu “Fiddler on the Roof”. Das Musical wurde zu einem der ganz großen Broadway-Erfolge und auch ins Deutsche übertragen. “Anatevka” heißt es hierzulande.

Giorgio Madia hat es am Staatstheater Cottbus aufwendig mit Sängern, Schauspielern und Tänzen und kühlem Bühnenbild (Cordelia Matthes) inszeniert, in dem die Juden aus Anatevka in windschiefen Buden hausen. Der Ort steht für die bitterarmen Schtetl im Westen des russischen Reichs und führt in die Zeit um 1905 zurück, als es dort zu zahlreichen Pogromen kam.

Nicht allein das ängstigt und verunsichert die Menschen in Anatevka. Es sind auch Veränderungen im Inneren der Gemeinschaft, die als Bedrohung empfunden werden. Denn die Tradition beginnt aufzuweichen. Einerseits steht sie für eine jede Entwicklung behindernde Starre, auf der anderen Seite ist es aber gerade dieser streng gehütete kulturelle, soziale und religiöse Kontext, der das Überleben der Gemeinschaft sichert. Die Tradition wird mit großem Chorgesang gleich zu beginn gefeiert und beklagt, weil sie beides ist: Segen und Fluch.

Erzählt wird davon aber nicht in sturer Düsternis. Stein und Sheldon Harnick, der die Liedtexte schrieb, haben das Musical gut dosiert mit feinem jüdischen Witz durchwirkt. Denn nur mit Langmut und Humor kann der arme Milchmann Tevje ertragen, dass sich seine Töchter ganz anders verheiraten wollen, als es die Tradition bestimmt – nämlich aus Liebe und ohne Vermittlung. Zeitl (Debra Stanley) möchte den Schneider Mottl (Hardy Bachmann), Hodel (Marlene Lichtenberg) den von revolutionären Ideen umgetriebenen Lehrer Perchik und Chava (Laura Maria Hänsel) den russischen Christen Fedja (Kai Börner).

Tevje, den Jürgen Trekel wunderbar spielt und singt, gibt Zeitl und Hodel seinen Segen. Aber Chava überfordert seine Toleranz. “Ein Fisch kann wohl einen Vogel heiraten”, argumentiert er, “aber wo sollen beide wohnen?” Die Unnachgiebigkeit ihrer Töchter lassen Tevje und dessen Frau Golde (sehenswert: Heidrun Bartholomäus) darüber nachdenken, wie das bei ihnen ist, ob sie aus Liebe oder nur aus Gewohnheit aneinander hängen. Es ist das erste Mal, dass sie sich ihr Innerstes offenbaren.

Doch fast gleichzeitig mit dieser emotionalen Aufweichung verhärten sich die Verhältnisse um Anatevka herum. Die Russen wollen die Juden aus dem Ort vertreiben. Doch die Konflikte die sich draus ergeben, verflachen auf der Bühne. Zu reibungslos verwandelt sich die gerade noch selbstbewusste Gemeinschaft in ein Häuflein der Schicksalsergebenen. Unberührt davon bleibt aber die hohe musikalische und sängerische Qualität dieser Inszenierung.

12. und 21.6, jeweils 19.30 Uhr, Staatstheater Cottbus, Tel. 0355 78242424

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