Lemberg leuchtet

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Gott hat das Wort Galizien wohl so geliebt, dass er gleich zwei Regionen schuf, deren Name im Deutschen – nicht immer, aber oft genug – derselben Schreibweise folgt. Die eine liegt am östlichen, die andere am westlichen Rand Europas. Hier ist vom östlichen Galizien die Rede. Von jener alten Region Mitteleuropas, wo angeblich “Halb-Asien” beginnt, zumindest nach einem Buchtitel des Schriftstellers Karl Emil Franzos, eines aus dieser Gegend stammenden Juden deutscher Zunge. Die Stadt, in der sich der Geist dieses Galizien am besten erhalten hat, ist das ukrainische Lwiw, seit seiner Zugehörigkeit zum Habsburgerreich auch weithin als Lemberg bekannt.

In dieser Stadt wird am 9. und am 17. Juni die deutsche Nationalmannschaft ihre Gruppenspiele gegen Portugal und Dänemark bestreiten. Aber es gibt auch sonst gute Gründe, nach Lemberg zu fahren, in diese “typisch europäische Stadt, eine meiner Lieblingsstädte in der Ukraine, wo der Kaffee so gut schmeckt wie in Wien” – so sagt es der ukrainische Boxweltmeister Vitali Klitschko in einem aktuellen EM-Werbevideo der Stadt auf dem Internet-Videoportal YouTube. Der Hauptgrund für eine solche Reise ist die wunderbare, ein wenig an Krakau erinnernde Altstadt. Genau genommen könnte man fast die ganze Stadt als “Altstadt” bezeichnen, nicht nur das Netzwerk von Straßen und Gassen um den Rynok (Marktplatz). Aber dieses Viertel, großenteils Fußgängerzone, ist der Ort, an dem viele Fäden und alle Menschen zusammenlaufen. Hier, unter den Fassaden von Renaissance bis Jugendstil, in Cafés, die versuchen, Wiener oder zumindest im weiteren Sinne k.u.k. Atmosphäre zu verströmen.

Lemberg, 1256 gegründet, bald auch mit dem deutschen Stadtrecht ausgestattet, zog schon sehr früh Migranten an und wurde zu einer wichtigen Handelsstadt. Fast 400 Jahre gehörte sie zum polnisch-litauischen Doppelstaat, ehe Kaiserin Maria Theresia die Stadt 1772 im Zuge der Teilungen Polens an sich nahm. Viele österreichische Beamte siedelten sich an. Lemberg wurde zur viertgrößten Stadt der Donaumonarchie. Zwischen den Weltkriegen wurde Lemberg, nach kurzen polnisch-ukrainischen Kämpfen, polnisch, allerdings mit starken Minderheiten: Vor allem viele Juden und Ukrainer lebten dort. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 wurde die Region der Sowjetunion einverleibt, 1941 kam die Wehrmacht, 1944 wiederum die Rote Armee. Die Bausubstanz blieb erhalten, doch demografisch blieb kein Stein auf dem anderen. Die Juden waren ermordet, die Deutschen “heim ins Reich” umgesiedelt, die Polen wurden großenteils nach Schlesien vertrieben. Ukrainer und eine kleine Anzahl Russen rückten nach.

Ein schlimmes Schicksal. Und doch ist diese Stadt so etwas wie die heimliche Hauptstadt der Ukraine. Unter den Österreichern konnten die Ukrainer ihre Kultur freier entfalten als weiter östlich unter den Russen, und nach 1918, unter den Polen, war dies ebenfalls eher möglich als im Sowjetreich. Dort forderte 1932/33, aufgrund der wahnsinnigen Wirtschaftspolitik Stalins, eine gewaltige Hungersnot Millionen Opfer. Sie ist, neben der Katastrophe von Tschernobyl, bis heute das größte nationale Trauma der Ukrainer.

Dazwischen lag eine dritte Katastrophe: der Krieg, die deutsche Besatzung. Die Ereignisse des Holocaust in Lemberg sind in diesem Jahr durch den oscarnominierten Film “In Darkness” von Agnieszka Holland weithin bekannt geworden. Viele Ukrainer im Westen des Landes, etwa in Galizien, sahen jedoch in den Sowjets noch schlimmere Besatzer als die Deutschen. Für Touristen aus Deutschland ist gut zu wissen, dass sie hier in aller Regel willkommen sind. “Heute bekommt man eher wegen der Energiepolitik der Bundesregierung kritische Fragen gestellt als wegen des Zweiten Weltkriegs”, sagt ein im Land tätiger Deutscher über seine Erfahrungen.

Die Stadt hat sich ein vielfältiges Antlitz bewahrt und kann es heute wieder ungehindert pflegen. Vier Bischöfe residieren hier, und ihre Kirchen geben der Stadt ein einzigartiges Gepräge; stellvertretend sei hier die düstere armenische Kathedrale genannt. Die meisten Gläubigen in der Stadt feiern Weihnachten nach dem östlichen Ritus am 6. Januar; dann ist es ein besonderes Erlebnis, den Sternsingern zu folgen.

Der Sommer hält andere Vergnügungen bereit: Vom 10. bis 12. Juni wird hier das Bierfestival stattfinden (beerfest.lviv.ua) – die Hinwendung vom Wodka zu leichteren Getränken hat, wie in Polen, auch hier eingesetzt. Mehrere ukrainische Biere haben jüngst europäische Preise gewonnen, wenngleich der ebenfalls aus der Ukraine kommende Wodka Nemiroff nicht zu verachten ist. Während der Fußball-EM wird es ein besonderes Kulturangebot geben; ansonsten ist Lemberg im September Schauplatz der wichtigsten Buchmesse des Landes. Hotellerie und Gastronomie sind im Aufschwung, die Auswahl ist groß, vom Traditionshaus “George” bis zum Sowjetkasten “Lwiw”, vom “Wiener Kaffeehaus” bis zur “Sushi-Insel”. Inzwischen ist auch die Apartmentvermittlung ein ernst zu nehmendes Angebot. Mehrere deutsche Stiftungen haben bereits ihre Tagungen in Lemberg abgehalten. Die Stadt ist aber immer noch ein Geheimtipp. Und wie wird sie den Andrang zur EM bewältigen? Das längst überfällige deutsche Generalkonsulat gibt es immer noch nicht. Ersatzweise will die deutsche Botschaft zur EM “Beamte auf Zeit” in die Stadt entsenden, um auf die erwartete fünfstellige Zahl deutscher Fans vorbereitet zu sein.

Lemberg hat den Vorteil, bei visumfreier Einreise für EU-Bürger nur eine Autostunde hinter der EU-Ostgrenze zu liegen. Die Straßenqualität in der Ukraine ist “etwas besser als in Polen”, sagt Heiko Jannermann, Vertreter der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), der gerade mit dem Auto von Deutschland bis nach Kiew gefahren ist. Die Gefährdung durch Kriminalität ist kalkulierbar. Ich selbst bin nach 15 Reisen durch die Ukraine erst einmal Opfer von Taschendieben geworden. Manches an der Negativberichterstattung ist stark übertrieben; die PR für die Ukraine steckt immer noch in den Kinder-, wenn nicht sogar in den Babyschuhen.

Allerdings sollte man bei der Reisevorbereitung sorgfältig planen und lieber einmal zu viel als zu wenig nachfragen – oder, dem Naturell der Slawen entsprechend, die Bereitschaft zum Improvisieren mitbringen. Die EM wird als “größte organisatorische Herausforderung in der bisherigen Geschichte” gesehen, und Pannen können vorkommen. Wer aus Westeuropa kommt, kann davon ausgehen, dass seine Gastgeber über sein Land viel mehr wissen als er über ihres: Etwa drei Millionen Ukrainer sind derzeit als Arbeitsmigranten im Ausland. Das bedeutet aber nicht, dass jeder Ukrainer gut Englisch spricht. Außerdem sollte man wissen, dass Frauen hier zur Begrüßung nicht immer die Hand geben, sondern lieber Distanz wahren, während vor allem Männer gern schnell zum Du übergehen.

Insgesamt ist die EM eine riesige Herausforderung und zugleich eine einmalige Chance, auch der erhoffte Startschuss für das Tourismusziel Ukraine. Das Miteinander der Menschen werde “mehr für die EU-Integration des Landes tun als das derzeit verhandelte Assoziationsabkommen mit der EU”, schrieb eine ukrainische Zeitung. Die EM-Boykott-Diskussion hat zwar Irritationen ausgelöst, doch gerade im nach Westen blickenden Lemberg hat man für Kritik an der ukrainischen Regierung volles Verständnis. Die Atmosphäre der Gastfreundschaft ist hier mit Händen zu greifen und nicht nur an den neuen Schildern abzulesen, die den Straßennamen neben kyrillischen auch in lateinischen Buchstaben zeigen. Auch bietet die Stadt mit den Internetseiten www.lviv.travel und http://uefaeuro2012.lviv.ua/de/main/ mehrsprachig gute Informationen.

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